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Wahllos zog ich ein schmales Bändchen aus dem Bücherregal, schlug es auf und las den ersten Satz.
Ich brauche jetzt Ruhe.
Holla, woher wusste die Autorin das? Die Schwierigkeiten in meiner Unruhe zu suchen, war wohl eine nahe liegende Vermutung. Ich irrte im Nebel der Einleitung meines neuen Romans und suchte nach dem ersten Satz, der zündet und den Leser hineinreißt in den Strudel der Ereignisse, ihn an die Worte kettet, Lesevergnügen verspricht und dieses Versprechen über mehrere hundert Seiten hält.
Ich stellte das Taschenbuch zurück und nahm einen gebundenen Band.
Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.
Ich träumte gerne und war nicht unbedingt das, was heutzutage ein harter Kerl genannt wird. An den Ohren litt ich auch, denn ich hörte nicht auf alles, was man mir weismachen wollte. Vor einem Jahr hatte ich mich an ein ähnliches Thema gewagt, Befehl und Gehorsam in der Arbeitswelt. Ob die Verlage an meiner Version interessiert waren? Auch wenn die gestrige Absage von Weigold nicht zählte, hatte ich keine Lust, das Exposé erneut zu versenden.
Das Buch schloss die Lücke in der Reihe für einen kurzen Moment, bis ich seinen Nachbarn herausgegriffen hatte.
Vor dem von Doppelsäulchen getragenen Rundbogen des Klostereingangs von Mariabronn, dicht am Wege, stand ein Kastanienbaum, ein vereinzelter Sohn des Südens, von einem Rompilger vor Zeiten mitgebracht, eine Edelkastanie mit starkem Stamm;
Ich hielt mit dem Lesen inne und suchte den Punkt am Satzende, fand ihn schließlich nach weiteren elf Zeilen, betrachtete ihn bewundernd, als enthalte er auf kleinstem Raum die Aussage des Satzes, der seinerseits majestätisch mehr als die Hälfte der Seite für sich beanspruchte, ein Königssatz also, dem sich der Leser unterwirft und bis zur letzten Seite folgt.
Resigniert stellte ich das Buch zurück. Ich wohnte nicht in einem Kloster sondern in der dritten Etage eines Mietshauses, dessen Haustür kein von Doppelsäulchen getragener Rundbogen zierte und vor dem für eine Kastanie auf dem schmalen Bürgersteig kein Platz war, ganz zu schweigen von dem Lichtraumprofil, das die Oberleitung der Straßenbahn für sich beanspruchte.
Mit den Studien über erste Sätze konnte ich meinen Kopf nicht füllen. Ich komme dann auf dumme Gedanken. Elf Uhr war längst vorbei und ich erwartete keine Post. Trotzdem nahm ich den Briefkastenschlüssel vom Haken in der Diele. Altbauwohnungen seien gemütlich, hatte ich Pia vorgeschwärmt, als sie eine neue Wohnung suchte und ich im Stillen hoffte, sie würde bei mir einziehen, unpraktisch seien nur die Briefkästen Parterre im Hausflur. Ob ich glauben würde, in ihrem Neubauklotz käme die Post in die achte Etage, fragte Pia. Wer weiß, antwortete ich, wenn der Postmann zweimal klingele … Pia drehte sich um, zeigte mir ihr hübsches Hinterteil und bediente die Männer auf der anderen Seite der Theke.
Ich ging am Briefkasten vorbei und aus dem Haus, als wollte ich einkaufen.