StartseiteAlmtraumFolge 38 vom 9. Mai 2007

Folge 38 vom 9. Mai 2007

Literatur und Leben hielt Sepp für zwei grundverschiedene Dinge. Gleichwohl verstand er es, eine unverhoffte Wendung in seinem Leben für die Literatur zu nutzen. Auf einer Lesung lernte er Margot Weigold, die Tochter eines mächtigen Verlegers kennen. Er beeindruckte sie mit seiner oberflächlichen Belesenheit, und als sie seiner Einladung auf sein Zimmer folgte und er ihr den Faksimile-Druck der limitierten Ausgabe von Zettels Traumzeigte, erlag sie der Erregung ihrer Sinne, die von der geheimnisvollen Unergründlichkeit des Werkes ausging. Wen wundert es, dass das Bauunternehmen Daschlgruber durch Margots Fürsprache den Auftrag zum Bau des neuen Verlagsgebäudes erhielt.

Der Fehler war, ihr sein Erstlingswerk hoffnungsvoll »zur weiteren Veranlassung«, wie er sich ausdrückte, zu übergeben. Margot leitete das Manuskript nicht an das Lektorat weiter, sondern las es in gespannter Erwartung zunächst einmal selbst.

Nie würde Sepp den Tag vergessen, an dem sie ihm das Manuskript zurückgab. Erst auf der Rückfahrt im Auto nach Rosenheim lösten sich die versteinerten Emotionen, abwechselnd wimmerte er und brüllte unartikuliert und schlug dazwischen mit der Faust auf das Lenkrad.

Ab der darauffolgenden Woche begann Sepp, höchstpersönlich und heimlich doppelte Wände und verborgene Türen in den Neubau des Verlagshauses einzuziehen. In der Nacht der Einweihung verschwand er vom Fest, noch im Frack, auf Nimmerwiedersehen in ein wohnlich eingerichtetes Kellergewölbe, dessen Zugang, geschweige denn Existenz, die offiziellen Baupläne nicht auswiesen.

Sepp war vollkommen auf ein Leben im Dunkeln eingerichtet. Tagsüber schlief er, abends schrieb er an seinem neuen Roman auf einer alten schwarzen Schreibmaschine mit silbern umbördelten Tasten, nachts schlich er heimlich durch die Büros der Lektorinnen, immer auf der Hut vor dem Nachtwächter, der alle zwei Stunden seine Runden drehte. Der Nachtwächter schaltete geduldig Schreibtischlampen aus und schloss bereits verschlossen geglaubte Türen erneut ab. Da keine Beschwerden laut wurden, blieb die Sache undurchsichtig wie der Schatten, den der Nachtwächter gelegentlich gesehen haben wollte und von dem nichts in seinen täglichen Berichten erwähnt wurde; der Nachtwächter dachte nicht daran, durch Hinweise auf Imaginäres der eigenen Berufsunfähigkeit Vorschub zu leisten.

Erik, so Sepps selbst gewählter Künstlername, las nachts an den Schreibtischen der Lektorinnen die eingesandten Manuskripte. Bald begnügte er sich nicht mehr mit Lesen, sondern schrieb Anmerkungen, korrigierte und kritisierte. Peinlich – was würden die Autoren denken, wenn die Manuskripte nach dem Überfliegen der ersten Seiten an sie zurückgeschickt wurden? Unter den Lektorinnen brach Streit aus, wer von ihnen die Saboteurin sei. Als die Diskussionen immer häufiger von heftigen Armbewegungen begleitet wurden, griff der Cheflektor ein. Er lud die Lektorinnen zum Abendessen und anschließend in einen Biergarten ein. Am nächsten Morgen inspizierten sie gemeinsam die Büros. Der Trick hatte funktioniert: Das Manuskript auf dem Schreibtisch von Amanda wurde überarbeitet und mit hämischen Anmerkungen zu Stil und Inhalt versehen. Die sechs Lektorinnen, noch nicht nüchtern, fielen sich um den Hals, und Amanda sprach den erlösenden Satz: »Niemand von uns war es, sondern ein Literaturphantom!«

Die Verlagsleitung rückte dem Literaturphantom mit der nächtlichen Überwachung der Büroräume durch Videokameras auf den Leib. Einige Wochen lang blieben die Manuskripte unbehelligt und die Lektorinnen atmeten auf. In der Tat hatte Erik jetzt keine Zeit mehr zum Durchsehen fremder Manuskripte. Er studierte die Kabelpläne. In dieser Zeit registrierte die Polizei einen merkwürdigen Einbruch in einen Multimedia-Markt. Wie durch Zufall festgestellt wurde, fehlte nur ein einzelner Monitor, obwohl reiche Beute in Form leicht zu Geld zu machender Elektronik winkte.