StartseiteAlmtraumFolge 37 vom 8. Mai 2007

Folge 37 vom 8. Mai 2007

Das Literaturphantom

Er sei ein Genie gewesen, so oder so, behauptete Max Daschlgruber und strich mit den Fingerspritzen über den grauen, von Zigarrenrauch angegilbten Schnurrbart. Sein Gesicht nahm den trotzigen Ausdruck eines Schuljungen an, der zwar ertappt wurde aber dennoch nicht den Stolz über die Missetat dem Schuldgefühl opfern will.

Daschlgrubers Frau seufzte. »Der Bub«, sagte sie leise, »morgen wäre der Bub fünfunddreißig geworden.«

Max Daschlgruber durchmaß das hundertzwanzig Quadratmeter große Wohnzimmer mit langen Schritten. Vor einem Bücherregal mit imposanten Ausmaßen blieb er stehen, schnaubte verächtlich und nahm einen guten Schluck aus dem Rotweinglas.

»Die Flausen« – das Glas kreiste in einer ausholenden Bewegung über die Bücherwand – »hatte er von dir.« Max Daschlgruber drehte sich zu seiner Frau um. »Schau doch dich an. Du wärst besser Tennis spielen gegangen als den lieben langen Tag mit den Schmökern herumzusitzen.«

Wie immer wurde Annerl unter dem Vorwurf ihres Mannes ein bisserl kleiner.

Sepp Daschlgruber, Sohn eines Bauunternehmers aus Rosenheim, verbrachte große Teile seiner Kindheit zwischen unverputzten Wänden, erst spielend und später helfend und lernend. Das Interesse für die Literatur weckte seine Mutter in ihm. Sepp musste seine Mutter sehr geliebt haben, wahrscheinlich war er sogar in hohem Maße von ihr abhängig, denn er entwickelte einen ausgeprägten literarischen Nachahmungstrieb. Während seine Schulkameraden mit Enid Blyton Geheimnisse lösten und Abenteuer bestanden und später an der Seite von Old Shatterhand durch die Prärie ritten und die Schurken mit Fausthieben an die Schläfe niederstreckten, auf ein Kamel wechselten und mit Hadschi Halef Omar in der Wüste die rettende Oase fanden, legte er Effi Briest sein kindliches Herz zu Füßen. Mit sechzehn begann er selbst Geschichten zu schreiben, immer tragisch endend, als sei verzehrendes Verlangen, dem Erfüllung auf immer versagt bleibt, sein Lebensthema. Sepp gewöhnte sich an, stets ein kleines Notizbücherl mit sich zu führen, in dem er seine Einfälle notierte und welches er in der Hosentasche verschwinden ließ, sobald sein Vater auf der Baustelle auftauchte, ihm wohlwollend die Kelle aus der Hand nahm und den Stein gekonnt mit der Kellenecke – klack! – in die Waagerechte brachte. Ein großer Baumeister sollte er nach den Vorstellungen seines Vaters werden und prächtige Bauwerke vollenden, Opernhäuser, Kongresszentren und Versicherungspaläste.

Sepp sah in Mauersteinen und Mörtel lediglich eine Brotarbeit. Insoweit fühlte er sich mit dem Erwachsenwerden neueren Idealen verbunden – Arno Schmidt, James Joyce, Kafka und Edgar Allan Poe; Thomas Bernhards lange Sätze saugte er wie Spaghettis ein. Je weniger er verstand, desto faszinierter klebte er an den Texten und machte sich das Unbegreifliche zur wahren Erkenntnis. Mit zwanzig schickte er seinen ersten Roman an einen Frankfurter Verlag, eine erste Adresse für gehobene sprachliche Ausdruckskraft. Nach über einem Jahr erhielt er sein Manuskript zurück, oben auf ein freundliches, nichts sagendes Schreiben. Sepp hatte Verständnis. Noch zählte er nicht zu den ganz Großen der Literaturszene, sein Stil würde in den nächsten Jahren noch reifen, und dann … Und dann wiederholte sich der Vorgang mit allen deutschen Großverlagen. Kommerz, urteilte Sepp verächtlich, während er im väterlichen Unternehmen weiter Häuser baute, Kommerz sei zu einer wahren sprachlichen Empfindung nicht fähig. Als bitterer Nachgeschmack der Absagen blieb das ohnmächtige Gefühl, wie er ignoriert und seinem wahren Publikum vorenthalten wurde.

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