StartseiteAlmtraumFolge 36 vom 7. Mai 2007

Folge 36 vom 7. Mai 2007

Stefan musterte die Wände des Wohnzimmers. Sie müssten gepolstert sein, dann könnte er sich als Autor nach Belieben austoben, seine Texte herausschreien und einer imaginären Leserschaft einbläuen, und die Verlage konnten weiterhin für ihn das nicht Fassbare bleiben, wie der plötzlich einsetzende Heißhunger auf Wackelpudding mit Waldmeister-Geschmack. Ein weißer See aus Kondensmilch schwamm auf giftgrünem Grund.

Er war nicht verrückt, sondern schwanger!

Das ist wohl schlecht möglich.

Alfred!

Der ungespülte Teller vom Mittagessen zerschellte am Rahmen der Küchentür und hinterließ dort eine Schramme im weißen Lack. Noch rechtzeitig bremste Stefan den Schwung der Rotweinflasche und setzte sie unsanft zurück auf den Tisch. Einen Teil des Wohnzimmers in einen unansehnlichen Fleck zu verwandeln, brachte lediglich zusätzliche Arbeit und Frust.

In einem Zug trank er das Glas leer.

Prost.

Die Stimme, die sich Alfred nannte, hatte sich als Seele auf Bewährung vorgestellt. Stefan stellte sich eine kleine Gaswolke vor, gemischt mit ein paar Staubpartikeln, so ziemlich das Unbedeutendste im Universum. Seele auf Bewährung! Noch nicht einmal ein Engel zweiter Klasse, was immer das sein mochte, war ihm zugeteilt worden, mehr als diese jämmerliche Seele stand ihm wohl nicht zu. Einen Racheengel könnte er gebrauchen, kein Puttchen, sondern etwas Ausgewachsenes mit Schwert in der Art eines Erzengels, besser noch eines Phantoms!

Ich bin nicht Stefan Bruhks, dachte er entmutigt.

Es gab keinen erkennbaren Grund für diesen Zweifel. Der Name war in diesem Gedanken ohne Belang, genauso gut hätte er Ich bin nicht Anatol Stillerdenken können wie jemand, der sicher ist, dass er Sepp Daschlgruber heißt. In seinem Fall war der Name ein Etikett, einfacher zu merken als eine Nummer und darum praktischer. Ob Name oder Nummer, beide sagten nichts über den Inhalt aus. Wenn es Alfred nicht geben würde, hätte er retrograde Amnesie unterstellt.

Stefan legte den Kopf auf die Armlehne der Couch. Ich bin eine Flasche, dachte er, etikettiert mit Stefan Bruhks, nicht so alter Jahrgang, ohne genauere Kenntnis, was darin steckt.

Nicht Alfred ist das Phantom, er selbst war es. Er brauchte dringend eine gute Lebensgeschichte, notfalls auch aus zweiter Hand, wenn es nur schnell gehen würde. In Geschäften konnte er keine Lebensgeschichte kaufen, vielleicht auf der Straße, wo sich Menschen, Figuren und Schicksale begegneten. Die Figuren waren in seinen Augen die interessantere Spezies, sie waren findig und agierten mit Menschen und schafften dadurch Schicksale. Was war beispielsweise mit dem orientalisch aussehenden jungen Mann, der ihm auf dem Rückweg von R&C begegnet war? Wenig zielstrebig schlenderte er die belebte Einkaufsstraße entlang, dicht an den Passanten vorbei. Ob er den Leuten etwas zuraunte? Stefan horchte, als lägen die geflüsterten Worte in der Luft: »Leben, frische Leben, brauchen Sie neues Leben?« Halb öffnet der Mann seine Jacke. »Hier, eins a, noch frisch, ist aus Selbstmord«, preist er seine Ware einem älteren Herrn an. Der schreckt zurück und stolpert beinah in den Rinnstein, hebt schützend den Arm: »Jessesmaria«. Ein erbärmliches Leben muss das sein, was ihm da angeboten wird und ihm ordentlich Beine macht, vielleicht eine Mischung aus Hader, Zerwürfnis und fehlender Anerkennung, womöglich das Leben von Sepp Daschlgruber, Sohn eines Bauunternehmers aus Rosenheim, der große Teile seiner Kindheit zwischen unverputzten Wänden verbrachte, und dessen eigentliche Leidenschaft der Literatur galt.

Stefan erhob sich, starrte gegen das Bücherregal und wiederholte im Kopf die Sätze, fügte neue an, repetierte, verwarf den Anfang und begann von vorne. Schließlich setzte er sich an den Schreibtisch, schob mit dem Ellenbogen die Manuskripte an die Seite und zog die Computertastatur zu sich heran. Ungeduldig wartete er, bis der Computer hochgefahren war. Endlich, neues Dokument. Der Schreibmarke blieb keine Zeit zum Blinken. Stefan tippte die Überschrift und rückte sie mittig ein.

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