StartseiteAlmtraumFolge 19 vom 20. April 2007

Folge 19 vom 20. April 2007

Ich drehte das vollgeschriebene Blatt aus der Walze und legte es zur Seite. Mehrfach drückte ich den schmerzenden Rücken durch, dann setzte ich die Ellbogen auf den Schreibtisch und presste das Gesicht in die offenen Handflächen. Ein Augenblick Ruhe und Entspannung würde mir gut tun.

Die veränderte Perspektive irritierte mich. Viel tiefer als sonst blickte ich über den Boden, als sei ich zwar nicht gerade winzig, doch viel kleiner geworden. Merkwürdig, dass ich meinen Körper nicht sehen konnte. Mühsam hob ich den Kopf. In der Zimmertür stand eine junge Frau. Ein Träger ihres Sommerkleides war gerissen. Obwohl sie die rechte Hand vor den Mund hielt, sah ich sie schreien. Ein anhaltendes Kreischen auf ‘aah’ stellte ich mir vor, denn hören konnte ich sie nur gedämpft, wie durch Watte. Sie verschwand kurz und kehrte, immer noch mit vor Schreck geweiteten Augen, zurück. Das erste Buch verfehlte mich nur knapp, das zweite traf hinter dem Kopf. Ungeachtet des dumpfen Schmerzes versuchte ich zu fliehen und unter das Bett zu kriechen. Trotz meiner Vielbeinigkeit blieb ich auf der Hälfte stecken. So sehr ich mich anstrengte – mein länglicher Körper mit dem käferhaft gewölbten Rücken saß fest. Panik befiel mich. Ein zweites Mal lief die Frau ins Wohnzimmer. Als sie wieder in der Tür erschien, hielt sie in beiden Händen das Literaturlexikon. Ich schrie, während die zwei Kilo durch den ausholenden Schwung zur tödlichen Waffe wurden.

Ich schreckte hoch und rieb mir Wange und Kinn an den Stellen, die nicht auf meinen verschränkten Armen, sondern in der Nähe der Typenhebel gelegen hatten. Alpträume begannen meine Spezialität zu werden. Von Kafka gab es meines Wissens kein Werk, welches Die Rachehieß.

Von der Straße drangen vereinzelte Verkehrsgeräusche herauf. Die Schreibtischuhr zeigte einen Sonntagmorgen im Juni, acht Uhr dreizehn. Aus meinem Magen meldete sich ein intensives Hungergefühl und verdrängte die nachlassenden Schmerzen im Gesicht.

In der Küche aß ich ein Gabelfrühstück aus Heringen in Tomatensauce. Die restliche Sauce aus der Dose stippte ich mit trockenem Brot auf.

Allzu viel Abwechslung bot meine Wohnung nicht. Ich entschied mich wieder für ein Bad; es würde mich erfrischen und beleben, befand ich. Auch wenn der Tag warm genug zu werden versprach, ließ ich heißes Wasser in die Wanne ein. Langsam versenkte ich mich bis zum Kinn ins Wasser, diesmal ohne Lesestoff. Heftige Bewegungen musste ich vermeiden, damit das Wasser nicht über den Rand schwappte.

Müdigkeit stellte sich ein und ich fragte mich, wie lange ich letzte Nacht gearbeitet hatte. Den trägen Lidern nach zu urteilen musste es spät geworden sein. Mehrmals schärfte ich mir Nicht einschlafen!ein, weil ich nicht in der Badewanne ertrinken wollte. Eigentlich fürchtete ich mich nicht vor dem Einschlafen, ich misstraute dem Aufwachen. Seit Pia mich aus der Beziehungskiste gestoßen hatte, veränderte das Aufwachen mein Leben. Ich war vom Sofa aufgestanden und hatte einen Roman begonnen, ohne die üblichen Recherchen, Notizen und Skizzen, im Aufwachen überwand ich die Krise und schrieb weiter. Auch in meinem Roman schien dem Schlafen und Aufwachen eine besondere Bedeutung beizukommen. Diesen Umstand bewertete ich allerdings nicht über; beim Schreiben waren unbewusste Übertragungen normal.

Einschlafen, Aufwachen, Veränderung – die Bewandtnis dieser wiederkehrenden Abfolge wollte mir nicht einleuchten. Eine Freundin zu verlieren war nicht ungewöhnlich, eher schon, den Computer zu ächten und sich mit der Schreibmaschine einzulassen. Ob das Sofa, auf dem ich eingeschlafen war, Teil eines Komplotts gegen mich war, angeführt durch die Schreibmaschine? Das Sofa stand regungslos in seiner verblichenen Pracht, nur die Tasten der Schreibmaschine grinsten mich an, sobald sie meiner ansichtig wurden. Wer jemals behauptet hätte, hinter Oma Käthe verberge sich ein Geheimnis, den hätte ich glatt ausgelacht. Ganz sicher war ich nun nicht mehr. Heftig rutschte ich mit dem Gesäß nach vorne, prustete Luftblasen und tauchte wieder auf. Kleine Wellen hüpften über den Wannenrand und platschten auf dem Boden. Auf dem Fußboden verbanden sich die kleinen Pfützen zu einer Seenplatte. Wie praktisch, dachte ich, beim Aufwischen würde ich aus den Sphären der überspannten Einbildungen in das reale Leben zurückkehren.