Die Uhr zeigte viertel vor zehn, also musste er noch einmal eingeschlafen sein. Er drehte das Gesicht aus dem feuchtwarmen Fleck des Kissens und hob langsam den Kopf, wie ein lauerndes, jagdbereites Tier. Heute morgen war etwas Ungewöhnliches geschehen. Die Erinnerung daran war blass und gewann nur allmählich an Schärfe. Natürlich, er hatte ein Problem: Jemand behauptete, er sei nicht sie, sondern sie sei er. Wer war er?
Der Personalausweis! Die Gründlichkeit der deutschen Verwaltung würde allen Zweifeln ein Ende bereiten. Vermutlich steckte der Ausweis in der Handtasche auf dem Wohnzimmertisch.
Mit einem Satz sprang er auf und griff sich aus dem geöffneten Kleiderschrank einen Morgenmantel. Der Kleiderbügel polterte gegen die Schranktür und fiel auf den Boden. Als er sich rechts in den Ärmel einfädelte, hielt die Naht unter der Achsel der ausholenden Bewegung des Armes nicht stand. Im Gehen verknotete er den Gürtel.
Eine Handtasche? Wenn das kein Indiz war – also sie! Unsinn, verwarf er die Schlussfolgerung, der Kleiderschrank war vollgestopft mit Frauengarderobe, was bedeutete da schon eine Handtasche? Zu welchem Zweck brauchte er überhaupt Beweise? Er war doch Stefan Bruhks.
Weil niemand widersprach, schöpfte er Hoffnung, dass sich die Frage erledigt hätte.
Hastig kippte er den Inhalt der Handtasche auf den Tisch: ein Portemonnaie, ein Scheckheft, ein kleines Notizbuch, der Ausweis in einer dünnen Brieftasche. Bruhks, Stefan, geboren am 15.10.1970. Deutsch. Die Unterschrift.
Er sank in den Sessel und vergrub den Kopf in den Händen. Aus einem Grund, der ihm nicht verständlich war, erwartete er eine tiefe Depression. Nichts.
Ich bin Stefan Bruhks.
Du gibst aber schnell auf, sagte eine unbekannte Stimme. Er hörte sie laut und deutlich, doch sie kam nicht aus dem Zimmer.
Verdammt noch mal, eine Menge Ungereimtheiten gaben sich bei ihm ein Stelldichein. Was bedeutete die Frauenbekleidung? Hatten sie gestern Abend Geburtstag gefeiert oder eine Beförderung? Sie waren allesamt betrunken gewesen und seine Freunde hatten sich einen schlechten Scherz mit ihm erlaubt, oder? Aber wer waren seine Freunde? Was arbeitete er? Wurde er nicht vermisst, wenn er nicht zur Arbeit erschien? Mit wem ging er ins Bett?
„Das darf nicht wahr sein!“ sagte er laut.
Im Schlafzimmer untersuchte er den Inhalt des Kleiderschrankes noch einmal genauestens. Komplett weiblich, verführerisch weiblich, befand er, und gut riechend. Vielleicht war er einfach nur in der falschen Wohnung? Einfach nur? In dieser Wohnung kannte er sich aus, glaubte er sicher zu wissen.
Stefan probierte mehrere Slips, bis er merkte, dass es am schmalen Schnitt lag. Beim Anziehen fielen ihm seine gepflegten Hände auf, ohne Anzeichen von handwerklicher oder gar körperlicher Arbeit. Für einen winzigen Moment hatte er den Eindruck rot lackierter Fingernägel.
Er wählte hellblaue Leinenjeans aus. Sie hatten die richtige Länge, saßen aber nicht in der Hüfte und im Schritt. Auch die anderen Hosen passten ihm nicht. Fluchend zog er sich ein Sommerkleid über. Es spannte in den Schultern und hing vorne. Die Frau, die dieses Kleid ausfüllte, musste eine geile Figur haben.
Na, na, du gewöhnst dich aber flott an die neue Denkweise, bemängelte die Stimme.
Stefan verharrte regungslos vor dem Kleiderschrank. Er konnte die Stimme nicht weiter ignorieren, sie klang zu deutlich, als sei er nicht allein im Raum, und sie verunsicherte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Was sich derzeit in seinem Kopf abspielte, unterschied sich von den gewöhnlichen kritischen Gedanken erheblich und klang mehr nach einem zweiten Ich.
Ich bin schizophren! Mit der Stirn schlug er heftig gegen die Schranktür.
Wenn du schizophren wärst, würde es dir nicht bewusst sein, erklärte es aus ihm.
Er schaute in die Spiegeltür. Der Einwand war logisch, es musste demnach eine einfachere Erklärung für seinen Zustand geben. Einfach, aber nicht naheliegend. Mit der Zeit würde er es herausfinden, tröstete er sich.
Von dritter Seite gab es keinen Widerspruch.
Langsam, als wollte er in sich hineinsehen, näherte er sich seinem Spiegelbild, den graublauen Augen, dem Mund, ebenso weich wie die Konturen seines Gesichtes. Der flüchtige Eindruck einer Frau entstand … blond … ich wäre hinreißend … Sein Gesicht mochte als weiblich durchgehen, nicht aber der kurze Haarschnitt. Die Leute würden ihn für einen Transvestiten halten. Mit einer Stola aus Straußenfedern, lässig um die Schultern geworfen – perfekt!
„Um Himmels Willen“, stöhnte er und versuchte, die bedrängenden peinlichen Vorstellungen wegzuschieben. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als sich als Frau auszugeben, wenn er an die dringend benötigte Männerbekleidung kommen wollte.
Er entschied sich für einen kurzen Hosenrock, den er am Bund mit einem Gürtel schließen konnte, und eine weit geschnittene Bluse. Die beiden Kleidungsstücke vermittelten ihm am ehesten das Gefühl, wie ein Mann angezogen zu sein. Jetzt fehlten noch Schuhe. Ohne Schuhe konnte er das Haus nicht verlassen. Seit dem Einzug in diese Wohnung hatten die Schuhe ihren Platz im Einbauschrank in der Diele. Der Gedanke überraschte ihn nicht sonderlich, ebenso wenig, dass der Schrank kein einziges Paar Herrenschuhe enthielt. Lediglich im Fach unten standen Badelatschen, ein Stück länger als die Sandalen daneben. Die Wohnungsinhaberin hatte wohl gelegentlich Herrenbesuch über Nacht, dachte er. War er etwa der Herrenbesuch?
Ihm schwindelte.