StartseiteAlmtraumFolge 17 vom 18. April 2007

Folge 17 vom 18. April 2007

5

Kallweit war für mich gestorben.

Ich ärgerte mich über meine emotionale Reaktion, die nicht unbedingt ein Zeichen von Souveränität war. Als Rechtfertigung ließ ich gelten, dass ich mich auf einem Tiefpunkt in meinem Leben befand; erfolglos, die Freundin verloren und von den eigenen Phantasien verfolgt, statt sie zu bändigen und in wohlgesetzten Worten zu Papier zu bringen. Um auf heitere Gedanken zu kommen, las ich einen bislang vor Pia versteckten Roman von Heinrich Spoerl. Ich vergnügte mich am pointenreich geschilderten Kleinstadtmilieu mit seiner biederen Bürgerlichkeit und fühlte mich versöhnter, als ich das Buch aus der Hand legte. Kallweits Beerdigung verschob ich bis aufs Weitere, vielleicht würde ein Wunder geschehen und Kallweit wiedererweckt, dann würde ich die vermeintliche Leiche noch gebrauchen. Kein Zweifel, Spoerl hatte Poe nicht aus meinem Kopf verjagt, er spukte bei diesen Gedanken noch dort, wenn auch unter strenger Beaufsichtigung, damit er nicht neuerlichen Schrecken verbreiten konnte.

Ich legte mich auf das Sofa und streckte mich aus, um zu entspannen. Es gelang mir, mich von angenehmen Träumen entführen zu lassen. Die dunkle Pia war für mich erledigt und so ergab ich mich der blonden Stefanie.

Als ich die Augen öffnete, stand die Dämmerung im Zimmer. Die roten Leuchtziffern der Schreibtischuhr zeigten halb zehn. Ich ignorierte den knurrenden Magen und setzte mich an die Schreibmaschine. Der Abend und die frühe Nacht waren meine kreative Zeit.

Die Zeitung auf der Schreibmaschine warf ich in den Papierkorb. Ich bewegte die Finger, um sie für die bevorstehenden schnellen Anschlagfolgen zu lockern, in meinem Kopf würden sich jetzt Sätze bilden … Hmm, dachte ich, warum zieht mich die Schreibmaschine an ihren Platz, wenn es nichts zu schreiben gibt? Imma ruich bleim, ermahnte ich mich, nach der selbst verordneten Pause musste ich mich erst in das Thema zurück schreiben. So nannte ich diesen Zustand, als ich noch nicht mit dem Computer, sondern auf der Reiseschreibmaschine arbeitete, die mir meine Eltern mit vierzehn zu Weihnachten schenkten. Die feinen Gebrauchsspuren am blauen Metallgehäuse entdeckte ich erst Wochen später, so glücklich war ich.

Stefanie hielt das Nachthemd bis zu den Hüften hoch und betrachtete sich in der Spiegeltür des Kleiderschrankes. Lächerlich, dachte sie, da steht eine Frau, die aussieht wie ein Mann und sich in erotischen Fantasien ergeht. Entschlossen zog sie das Nachthemd über den Kopf, um sich anzukleiden. Alle Achtung, ich würde mir gefallen, urteilte sie über ihr Spiegelbild, das ihr einen schlanken, nicht zu athletisch gebauten Körper zeigte. Sie drehte sich zur Seite, strich prüfend über das Gesäß, die Seiten hoch und über den Brustkorb. Hier vermisste sie etwas, was ihr fehlte wie das eigene Ich und wofür ihr der anderweitige Zuwachs keine ausreichende Kompensation war.

Stefanie warf sich in einem neuerlichen Anfall von Panik auf das Bett, trommelte wild mit den Fäusten und biss in das Kissen. Danach lag sie erschöpft, bis sich ihr Atem beruhigte.

Es ist zwecklos, noch weiter zu toben, sagte sie sich, ich ändere nichts mit Gewalt. Die Metamorphose ist über Nacht gekommen, vermutlich wird sie auch über Nacht gehen. Heute oder morgen, irgendwann.

Stefanie hielt die Tränen nicht zurück. Ihre Zuversicht gründete sie auf Hoffnung.

Du bist ein mieser Kerl, tadelte ich mich, du quälst eine Frau, die dir nichts Böses getan hat.

Sie ist eine Lektorin, rechtfertigte ich mich, und es schadet nichts, wenn sie am eigenen Leibe erfährt, wie es in einem abgelehnten Schriftsteller aussieht.

Sie weiß es doch gar nicht. Und er ahnt auch nichts.

Die Stimme, hier bei mir? Ich starrte die Schreibmaschine an, dieses großmäulige Etwas, deren Typenhebel ich schlecht mit Leukoplast verkleben konnte, um sie zum Schweigen zu bringen. Die Stimme war meine Erfindung, die ließ ich mir von der Triumph nicht kopieren. Ich suchte nach einer Erklärung – vermutlich hatte ich meine Gedanken unwillkürlich in die Stimme gekleidet, beruhigte ich mich. Mit dem Hören ist das so eine Sache, entweder oder, es gab kein zweites Mal, um zu verstehen. Wie auch immer, der Einwand der Stimme war berechtigt. Kopfschüttelnd machte ich mich wieder an die Arbeit. Jetzt müsste ich Stefanie endlich etwas anziehen. Sie lief schon viel zu lange nackt durch den Roman.