»Hinter der Hütte, durch die Latschen das Geröll hoch, führt der Weg zum Girpitsch. Man hält sich links«, zeigte er mit dem Finger, »und kann dann auf die Weiße Wand wechseln und kommt in einen Wald – er breitet sich nach oben wie ein Trapez aus.« Stefans Arme umrissen die Form. »Auch im Wald bleibt man an der linken Seite und erreicht oben schließlich die höchste Stelle der Weißen Wand.«
»Muss ich mit dort zurechtfinden – allein?«
Anstatt zu antworten setzte sich Stefan auf einen flachen Felsbrocken und rückte ein Stück, damit sie Platz bekam.
»Es tut mit leid«, sagte Bettina, »ich war unnötigerweise verletzend, auch als ich eben Ihre Großzügigkeit lächerlich gemacht habe.«
»Mir ist es peinlich, wenn Sie sich bei mir entschuldigen.«
Bettina schaute ihn von der Seite an.
»Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass mir die Entführung leid tut«, sagte Stefan. »Sie sind eine angenehme Begleitung.«
»Das konnten Sie aber nicht wissen.« Bettina erhob sich, ging ein paar Schritte und blieb stehen. »Sie lieben Ihr Paradies und möchten mich teilhaben lassen. Ihre Gefühle für die Alm sind so erdrückend wie ein Felsmassiv und darum versuchen Sie ständig, sie mir auf erzählerische Weise zu vermitteln. Ohne eigenes Erleben funktioniert das jedoch nicht. Deshalb sollten wir jetzt die Fromml-Hütte besichtigen. Wie ich sehe, hat sie einen Keller, im Gegensatz zu unserer.«
»Die Sennerin musste Milch und Butter kühl lagern. Ich hätte ihr gerne frühmorgens beim Buttern zugeschaut, habe es aber nicht ein einziges Mal geschafft, zeitig genug aus den Federn zu kommen.«
»Los«, ermunterte sie ihn.
»Jetzt pressiert es nicht mehr. Seit dem die beiden Sehenswürdigkeiten in den Ruhestand getreten sind, ist die Fromml-Hütte eine wie jede andere.«
An der Wand neben der Eingangstür stand noch der Tisch mit den beiden Bänken, das eigentliche Wohnzimmer. Alle saßen dort, Verwandte, die Genossenschaftsbauern, Freunde und Nachbarn aus dem Dorf. Stefan führte vor, wie der Senner trotz seiner Blindheit und seines Alters von der Bank den abschüssigen Weg um die Hausecke zum Kellereingang flitzte, um kühles Bier und Schnaps zu holen.
»Er kannte sich in seiner Welt aus«, kommentierte Bettina. »Klein, überschaubar und nicht so kompliziert wie unsere. Ich vermute, er war glücklich.«
»Die beiden haben sich nie beklagt. Natürlich hat ihnen die Arbeit in ihrem Alter Mühe gemacht. Sie haben nicht ferngesehen, keine Zeitung gelesen, geschweige denn ein Buch; sie waren ausschließlich auf Kommunikation mit den Leuten angewiesen, die an ihrem Tisch vor der Hütte saßen. Können Sie sich ein Leben ohne intellektuellen Anreiz vorstellen?«
»Schwerlich«, antwortete Bettina nachdenklich. »Des Senners Horizont waren die Viecher, meiner sind die Bücher. Wenn Sie das falsch verstehen, bekommen Sie Streit mit mir.«
»Nein, nein, Sie sind nicht überheblich.«
»War das etwa ein Kompliment?« fragte Bettina argwöhnisch.
»Eine Feststellung. Sehen Sie, Georgs Lebensinhalt bestand aus Essen und Trinken, Unterkunft, Kleidung, regelmäßig eine Frau. Wenn er nicht Senner, sondern Bauer gewesen wäre, hätte es schon mehr bedurft, um ihn zufrieden zu stellen.«
»Die Erfüllung soll man dort suchen, wo man im Leben steht. Oder den Platz wechseln.«
»Hatten die Senner eine Chance zu wechseln?«
»Wohl kaum«, meinte Bettina. »Das ist das übliche Dilemma.« Weil Stefan das Gespräch nicht unmittelbar fortsetzte, sagte sie: »Wir werden auf diese Frage jetzt keine schlüssige Antwort finden.«
»Sie hätten mein Manuskript lesen sollen.«
»Nein«, sagte Bettina gequält, »bitte machen Sie aus der Geschichte keinen Alptraum. Hatten Sie ein Exposé eingeschickt oder das Manuskript?«
»Ich habe es bei mir.«
»Vermutlich haben Sie das Manuskript geschickt. Ich habe den Einstieg in das Thema nicht gefunden und mich an die Abarbeitung der anderen Texte gemacht. Herrgott, Sie sind nicht der Einzige!«
»Wollen Sie es lesen?«
»Gut. Heute Abend, und mit dem Versprechen, Ihnen exakt die Seitenzahl zu nennen, an der ich das Manuskript endgültig zugeklappt habe.«
»Das ist ein Wort«, stimmte er zu.
Bevor er zu Bett ging, fragte er erwartungsvoll, wie weit Sie gekommen sei.
»Ich lese noch«, antwortete sie, ohne den Kopf zu heben.