StartseiteAlmtraumFolge 102 vom 12. Juli 2007

Folge 102 vom 12. Juli 2007

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Am Dienstag versprachen frische klare Luft und ein unentschlossen zwischen Blau und Weiß schwankender Himmel einen schönen Tag. Beim Frühstück hielt Stefan einen Vortrag über das Wetter und die Angewohnheit moderner Menschen, vom Wetter unabhängig zu planen und zu handeln; auf der Alm müsse man dagegen erst einen Blick aus dem Fenster werfen. Bettina amüsierte sich über seine Ernsthaftigkeit, und beinahe wäre das harmlose Gespräch in einen Streit gemündet, hätte sie nicht eingelenkt.

Stefan hatte schon beim Aufwachen an das Manuskript gedacht, seine Frage nach der Seitenzahl aber zunächst zurück gestellt, um nicht aufdringlich zu sein. Als sie zur Wanderung aufbrachen, war er guter Laune und das Manuskript vergessen. Gerne hätte er sein Herz zum Girpitsch empor geschleudert: Hallo, ich komme in netter Begleitung.

Zu Fuß ging es nicht so schnell wie in seinem Kopf. Hinter der Fromml-Hütte folgten sie der Mure bis zu der Stelle, an der die Weiße Wand in die Bergflanke stieß. Ein Stück kraxelten sie den Felsausläufer empor und trafen oben auf einen schmalen Fußsteig, der sie am Abhang vorbeiführte. Sträucher und kleine Bäume versperrten den Blick in das Tal. Nur die Jäger und Bauern und damals auch die Senner würden diesen Weg benutzen, wenn sie zum Girpitsch wollten, erzählte Stefan.

Der Weg endete am Wald im Unterholz. Die Lärchen standen weit genug auseinander, um das Sonnenlicht in hellen Streifen einzulassen und Gras und kleinen Sträuchern eine Überlebenschance zu geben. Stefan stieg geradlinig den Wald hinauf und wich selbst umgestürzten Bäumen nicht aus. Weit oben, nahe dem linken Waldrand, schlug er plötzlich einen Zickzackkurs ein und verließ schließlich zielstrebig den Wald zwischen zwei Sträuchern.

»Hier ist die Lärche mit dem verkrüppelten toten Ast.« Schwer atmend standen sie am unteren Ende einer Wiese, die den Berg hinauf reichte.

»Pause«, sagte er und setzte sich ins Gras. »Die Sonne bringt uns ordentlich ins Schwitzen, selbst hier im Wald. Können Sie unten die Hütte sehen?«

Bettina trat einen Schritt die Böschung hinunter, schrie ein helles aah! und krabbelte auf allen vieren einige Meter die Wiese hinauf. »Himmel, ich stand direkt am Abgrund.« Sie krallte ihre Hände in das Gras.

»Vor einigen Jahren ist hier eine Kuh abgestürzt.«

»Wenn ich nicht so erschrocken wäre, würde ich darin eine Anspielung sehen. Können wir noch einen Augenblick hier sitzen bleiben?«

Aus dem Augenblick wurde eine in der Sonne verdöste halbe Stunde. Mitten hinein fragte Bettina, wie denn diese Kuh auf die Weiße Wand und die anderen von Lori und Georg auf die Alm gekommen seien, etwa mit dem Lastenaufzug oder dem steilen Pfad am Wasserfall vorbei? Es müsse noch einen anderen Weg geben.

Über die Decker-Alm, sagte er träge in den Himmel, dort drüben. Weiter unten im Tal gebe es eine Weggabelung, mit dem Auto könne man den Weg nicht hinauf fahren und zu Fuß sei er ein viel zu weiter Umweg, um zur Walln-Hütte zu kommen. Selbst wenn sie den Weg kennen würde, sei er für eine Flucht im Schnee ungeeignet.

Bettina fragte nicht, wo die Decker-Alm und dort drüben war. Später gab sie das Zeichen zum Aufbruch. Sie stiegen in Serpentinen über die Wiesen nach oben und erreichten schnaufend eine bucklige, mit hohem Gras und Latschen bewachsene Ebene. Um eine ausgedehnte sumpfige Stelle schlug er einen Bogen, an dessen Ende die Wiesenbuckel auseinander traten und den Blick auf den See freigaben.

Vor der massigen Girpitschkarspitze wirkte der See wie ein Tümpel, in dem sich das Wasser des letzten Regens gesammelt hat, vorne hell und gegen das rückwärtige Steilufer in das Dunkelgrün der Sträucher übergehend. Die Hänge verloren nach oben schnell an Bewuchs und endeten mit vielfältigen Schattierungen an Kalkfelsen und Schutthalden. Vor einer senkrecht aufsteigenden Felswand hatte die Zeit einen Steinbruch aus gewaltigen Brocken angelegt. Eine imposante Kulisse für einen eher mickrigen See, urteilte Bettina.

Stefan führte sie ein Stück am Seeufer entlang. Die Luft bewegte die Wasseroberflache so sanft, dass die Brechung des Lichts beim Blick auf den Grund kaum wahrnehmbar war. Ein kleiner Fisch stand regungslos, verschwand dann blitzschnell zwischen Steinen, dass Stefan nur ein Da! herausbrachte, ohne eine Chance, den Zeigefinger in Richtung auf das Fischlein zu bewegen.

»Kennen Sie diese Pflanzen?« Bettina deutete auf die vereinzelt und in kleinen Gruppen stehenden fleischigen Stängel, die beinhoch aus dem Gras ragten. Die langen Blätter standen nur oben kraftvoll, unten hingen sie schlaff und färbten sich an den Rändern braun.

»Weißer Germer«, antwortete Stefan. »Er fällt wegen seiner Üppigkeit auf, wo ringsum alles kahl ist.« Er übersprang ein schmales Bächlein, das den Zufluss zum See bildete.

»Geradeaus können wir durch die Steine bis an den Fuß der Felswand klettern. Rechts hoch kommen wir auf die Girpitsch-Alm.«

»Ist das der Aufstieg, den Sie mit der kleinen Engländerin gemacht haben?«

»Ja. Möchten Sie?«

»Warum wollen Sie mir den Ausblick verweigern, von dem Sie so geschwärmt haben?«

»Bitte!« sagte er, als erfülle er Bettina einen lang gehegten Wunsch. Jede Stunde auf der Alm vergrößerte die Aussicht, dass er heute nicht mehr nach Hause fahren müsste und verdrängte den Gedanken an das danach.