StartseiteAlmtraumFolge 100 vom 10. Juli 2007

Folge 100 vom 10. Juli 2007

Nach dem Frühstück lud Stefan zu einer Almbesichtigung ein. Die Wolkendecke war bereits an einigen Stellen aufgerissen und ließ die Sonne durchscheinen und die Alm in Grün leuchten. Auf den Hängen hatte sich der Schnee bis in die geschützten Winkel zurückgezogen, nur ganz oben lag er noch als Fleckenteppich auf den Matten.

Wie ein dicker Bauch hing der Hang, den sie gestern im Schnee hinaufgestiegen waren, auf der Alm. Sie gingen bis zur Kapelle und weiter zur Priach. Der Bach hatte sich an dieser Stelle den Berg hinunter einen felsigen Einschnitt gegraben. Lärchen wuchsen auf den Felsabsätzen bis an den Rand der engen Schlucht und hielten das karge Erdreich fest, einige von ihnen waren von der Priach überwältigt und umgestürzt worden. Unten im Bach war eine tiefe Stelle entstanden, aus der das Wasser flacher und ruhiger abfloss, ein idealer Badeplatz, wie Stefan erklärte, für die Hartgesottenen. Nur einmal habe er sich zusammen mit Hermann überwinden können.

»Und die kleine Engländerin?«

»Wenn sie sich ausgezogen hat, wollte sie es lieber warm.«

Bettina bückte sich und tauchte einen Finger in das Wasser. »Du meine Güte«, sagte sie und schüttelte die Wassertropfen ab. »Ich kann sie verstehen. Bei der Temperatur würde ich Wärme zur Weltanschauung machen.«

»Gehen Sie mit mir den Bach ein Stück aufwärts?«

»Durch das eiskalte Wasser?« fragte Bettina entsetzt.

»Was glauben Sie! Wir nutzen alles, was im Wasser liegt, um nicht hineinzutreten, Felsen, Steine, Sand- und Kiesbänke, Baumstämme, die Böschung. Hundert Meter etwa habe ich es bis oben hin geschafft, dann wurde es mir zu steil. Das Klettern ist eine wirkliche Herausforderung für die Körperbeherrschung. Einige knifflige Stellen haben es in sich.« Er fasste Bettina am Arm und stieg auf einen flachen Stein.

Sie zögerte.

»Folgen Sie mir einfach. Beim nächsten Mal schaffen Sie es allein.«

Zwanzig Minuten benötigten sie bis zu einem kleinen Wasserfall, ab dem sie nicht mehr weiter kamen.

»Hat es Spaß gemacht?«

»Es ist tatsächlich kein Kinderspiel«, sagte Bettina, »trotzdem irgendwie albern. Die Zeit, in der ich mich für Abenteuerspielplätze begeistern konnte, ist vorbei.«

»Steppen auf der Stelle, hundert Mal das gleiche Gewicht stoßen – ein Fitness-Studio ist aufregender, und viel erwachsener.«

»Sie haben mich überzeugt«, nickte Bettina.

»Dann gehen wir jetzt zur Fromml-Hütte, wo die letzten Senner dieser Alm gelebt haben, Lori und Georg, so bis 1980 etwa. Die beiden waren über siebzig und hatten sich ihren Ruhestand verdient. Vor Georg, dem alten Schlawiner, war kein Weiberrock sicher. Halb blind, wie er war, hat er noch Holz gehackt, ohne jemals daneben zu hauen. Bei den Frauen musste er nichts sehen, da hat er ohnehin lieber getastet. Erst um die Schultern und dann an die Brust.«

»Ich hätte ihm schon auf die Finger geklopft.«

»Ich habe das nie so eng gesehen. Der Alte war ansonsten ein lustiger, liebenswerter Kerl.«

»Männer unter sich! Hat Sie das nicht gestört, wenn er die kleine Engländerin begrapscht hat?«

»Wie gesagt … « Er glaubte Georgs Hände zu spüren, wie sie auf seinem Schenkel lagen. »Bier und Obstler gingen bei Georg nie aus. Blieben wir länger, lud uns Lori zu einer Brotzeit mit Wurst und Speck ein. Am Ende haben wir selbstverständlich bezahlt, und immer etwas mehr, als Lori verlangte.«

»Wollten Sie das Brauchtum fördern oder war das etwas mehr ein Almosen?«

Stefan schwieg betreten. Die Lektorin verdarb ihm mit ihrer messerscharfen Analytik die Stimmung. Von Feinfühligkeit und Bewunderung für ihr urtümliches Leben konnten die beiden armen Teufel nicht leben, nie hatten sie die Wahl gehabt, sich für oder gegen die Alm zu entscheiden. Stefan war versucht, die Nase der Lektorin auf diese Sichtweise zu stoßen, unterließ es aber und streckte den Arm aus. In einiger Entfernung lag die Fromml-Hütte vor einem hoch aufragenden Berghang mit der grauen Blutspur einer alten Mure. Latschenkiefern bedrängten das Geröll und bedeckten einen Teil der Mure wie die Kruste einer Wunde.