
Es gibt Bücher, bei denen man sich fragt, warum sie Bestseller wurden. Nicht, weil sie schlecht wären, sondern weil sie nicht sonderlich herausragend sind. »22 Bahnen« von Caroline Wahl ist so ein Buch. Über eine Million Mal verkauft – jetzt auch im Kino. Und wieder stellt sich dieselbe Frage wie beim Buch.
Einfach locker weglesen
Die Handlung von Film und Buch ist schnell erzählt: Mathematikstudentin Tilda jobbt an der Supermarktkasse und ist die Ersatzmutter für ihre kleine Halbschwester. Denn beider Mutter ist Alkoholikerin. Dann erhält Tilda das Angebot, ihre akademische Karriere in Berlin fortzusetzen. Aber kann sie ihre kleine Schwester allein mit der Mutter in der Provinz zurücklassen? Angereichert ist die Story mit einer Liebesgeschichte und einem Rätsel aus der Vergangenheit. Ein Coming-of-Age-Roman, der trinkende Elternteil ist keine originelle Plotidee. So ziemlich alles ist auserzählt, beim Lesen muss man sich nicht viel eigene Gedanken machen. Konsequent eingesetzte Zahlen statt Zahlwörter und Dialoge in Drehbuchform simulieren sprachliche Originalität.
Die 2 ½ Gründe für den Erfolg
Fragt man nach dem Erfolg des Buches, so findet man 2 Gründe: Da ist zum einen die Erzählstimme, die Caroline Wahl für ihre Protagonistin gefunden hat. Nie gleitet das Ganze in Kitsch oder billiges Drama ab. Man kann sich mit Tilda identifizieren, egal ob junge Leserin oder Kulturstaatsminister. Alle finden Tilda cool, wie sie ihr Leben meistert und sich um die kleine Schwester kümmert. Die sanfte Form des Sozialdramas, die mitreißt, aber niemand wehtut.

Der zweite Grund für den Bucherfolg ist – Denis Scheck. »22 Bahnen« ist kein New-Adult-Roman. Dennoch bietet das Buch eine Anknüpfung an die junge BookTok-Community, sofern sie auch mal mehr will, als Mr. Right in London finden oder gegen Drachen kämpfen. Zwar wurde von Anfang an auch »22 Bahnen« auf TikTok besprochen, doch so richtig angeschoben hat dies erst Literaturkritiker Scheck, als er als Mitglied der TikTok-Book-Award-Jury den Roman von Caroline Wahl entgegen der Community-Meinung zum »Community Buch des Jahres 2023« erklärte. Danach startete der Titel auf TikTok so richtig durch und gewann im Jahr 2024 erneut in der Kategorie »Bestseller des Jahres«. Das ist ein wenig paradox, denn seinerzeit fand es die TikTok-Community alles andere als okay, dass der omnipräsente Denis Scheck in der Jury saß.
Als dritten Grund mag man die Autorin selbst anführen, die landauf, landab unermüdlich zu Lesungen unterwegs war, die sich als Raucherin und Mercedes-Fahrerin nahbar und verletzlich-tough zeigt und ihr selbsterklärtes Ziel nicht aus den Augen verlor, mit dem Schreiben zur Millionärin zu werden (Was ihr mittlerweile sicherlich gelungen ist).
Der passende Film zum Buch

Da die Handlung simpel ist, lässt sie sich verlustfrei in 102 Minuten wiedergeben. Luna Wedler, derzeit anscheinend abonniert auf nicht stromlinienförmige Buchfiguren, übernimmt die Rolle der Tilda. Auch der Film von Regisseurin Mia Maariel Meyer und Drehbuchautorin Elena Hell bemüht sich darum, dass man sich beim Schauen wenig eigene Gedanken machen muss. Der exzessive Voice-Over-Einsatz erklärt dem Kinopublikum stets, was es sieht. Visuelle Signale machen deutlich, was Sache ist: Tilda mit kürzeren Haaren: aktuelle Erzählzeit. Tilda mit längeren Haaren: Rückblende. Jutetasche mit leeren Flaschen im Bild: Mutter säuft wieder. Leere Jutetasche im Bild: Mutter verspricht wieder einmal, ein besserer Mensch zu werden.
Auch der Film verzichtet auf allzu krasse Bilder, gleitet ebenfalls nicht in Kitsch oder Drama ab. Der passende Soundtrack – allem voran »Durch den Monsun« von Tokio Hotel – rundet den reibungslos-soliden Kinoabend ab.
Die obligatorische Frage, ob nun Film oder Buch besser ist, muss man hier nicht stellen. Es ist ein Film, wie er besser zum Buch nicht passen könnte.
Wolfgang Tischer
Wieviel Geld hat Denis Scheck wohl bekommen vom Verlag? Solche Bücher zerreist er sonst umgehen und regelmäßig in seiner Sendung Druckfrisch. Hat mich sehr gewundert, dass er auch das zweite von ihr überhaupt besprochen hat. Absurd.
Richtig!!!!! Eine absolut flache Schilderung einer dramatischen Situation.
Sehr gut zu lesen!!! Tut gut!!!
Ich muss ehrlich zugeben, dass das Buch, ähnlich wie Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ oder Juli Zehs „Unter Leuten“, meine Lesegewohnheiten nachhaltig geändert hat. Das ist für einen „alten weißen Mann“, wie ich es bin, nicht gewöhnlich, aber es fiel mir dennoch nicht schwer. Auch weil ich nach einer 40-jährigen Karriere in der Psychiatrie meine, die Authentizität der Geschichte beurteilen zu können. Etwas, das vielen Büchern für junge Menschen, die derzeit den Markt überschwemmen, leider fehlt. Caroline Wahl selbst kommt im persönlichen Gespräch ebenfalls sehr echt und entspannt rüber, das ist schön. Und der Erfolg sei ihr vom ganzen Herzen gegönnt.
Den Film werde ich mir wohl ansehen, ich hoffe er kommt an den Roman ran.
Interessant, dass du das Buch (die Protagonisten im Buch) vor dem Hintergrund deiner Erfahrung mit psychisch kranken Menschen so positiv bewertet.
Ich habe das Buch nicht gelesen, sondern gestern den Film gesehen. Und ich konnte nicht begreifen, wie eine so intelligente junge Frau ihre familiäre Situation ohne professionelle Unterstützung alleine bewältigen wollte.
Aber klar, Intelligenz schützt nicht vor emotionalen „Fehlschlüssen“ (wenn dies ein solcher überhaupt war – aus meiner Zuschauerperspektive) Und ich kann vermutlich „von außen“ schlecht beurteilen, wie man/frau INNERHALB der schwerst belastenden Situationen handelt. Da bringst du offensichtlich mehr Erfahrungen mit.
Zudem ist es natürlich der künstlerischen Freiheit zuzurechnen, eine Situation innerhalb eines sehr kleinen Personenkreis darstellen zu wollen.
Da ich eine ähnliche Familiengeschichte habe, und das kommt im Buch sowie im Film auch glaubhaft raus: man holt sich keine Hilfe, weil man große Angst hat, dass Jugendamt oder stationäre Therapie die Familie auseinanderreißen. Darum schweigt man und versucht verzweifelt, nach außen hin die Fassade aufrecht zu erhalten. Co-Abhängigkeit eben. Und (-was anhand der zumindest im ersten Buch etwas eindimensional als Monster dargestellten Mutter nicht klar wird, im Film aber so viel schöner zu sehen ist-) da ist eben auch immer viel Liebe und Bindung im Spiel. Man gehört zusammen und will es zusammen schaffen. Wir gegen die Welt da draußen, das ist realistisch und das kann sich verselbständigen. Häufig gibt es, genau wie in der Geschichte auch, nur einen kleinen Kreis von Eingeweihten, der irgendwie unterstützt.
Ich hätte mich nie an das gefürchtete Jugendamt gewendet, aber auch nicht an Lehrer oder Schulpsychologen, aus Sorge vor dem Stigma. Und eine Therapie muss das von Sucht betroffene Mitglied schon selbst annehmen wollen, das kann man niemandem aufzwingen. Besonders, wenn die Krankheitseinsicht fehlt. Schon Kinder als Angehörige wissen das.
Ich finde den ständigen Vorwurf an das Buch, dass es ja so unrealistisch sei, dass von außen keine Hilfe angekommen werde, ziemlich weltfremd. Das sind wohlfeile Gedanken von Nichtbetroffenen. Von innen sieht sowas eben ganz anders aus und Hilfe annehmen erscheint oft schwerer, als es allein zu versuchen.
Auch deshalb könnte das Buch so erfolgreich sein: Alkoholismus ist eines der häufigsten dunklen Familiengeheimnisse in unserem Land. Viele dürften sich in Tildas Geschichte auf die eine oder andere Art wiedererkennen.
Vielen Dank! Für diesen sehr ausführlichen und differenzierten Kommentar zum Buch!
Danke Lisa für deine Darstellung!
Ich hatte in meinem Kommentar ja bereits meine „Außensicht“ in Frage gestellt und nach dem Besuch des Films mit meiner Freundin darüber gesprochen, dass die Furcht vor dem bürokratischen Handeln des Jugendamtes ein Hinderungsgrund ist, Hilfe von außen zu holen.
Das ist keine Frage der Intelligenz, sondern eine der Scham. Es ist der Status quo bei Angehörigen von Menschen mit psychiatrischen Problemen, nicht „darüber“ mit anderen zu sprechen. Das Stigma ist gewaltig und du musst extrem stabil sein, um damit leben zu können. Genau, weil sich die Protagonistin eben keine Hilfe holt, wirkt die Geschichte derart authentisch.
Hallo Christian! Danke auch dir für deine Antwort. Mein Kommentar war mein erster Eindruck, direkt nach dem Kinobesuch wiedergegeben. Wie schon in meiner ersten Replik geschrieben, hatte ich meinen ersten Eindruck tatsächlich „in Frage“ gestellt.
Ich bin daher froh, in diesem Forum von anderen Wahrnehmungen, beruhend auf realistischen Erfahrungswerten zu lesen.
Es war ein Film, der nicht meinen üblichen Seegewohnheiten entspricht. So wirkt der Film nach – aufgrund der Bildsprache und der Inhalte.
Ich habe das Buch noch nicht gelesen, habe den Beginn des Romans bei einer Lesung gehört! Und dieser Anfang hat mich als Bahnenschwimmerin so sehr angesprochen.
im Film kam m.E. diese wohltuende Monotonie nicht so gut rüber. (Nur EIN Aspekt.)
meine damalige erste Reaktion auf das Buch war: das ist das beste Buch, welches ich jemals über die Auswirkungen des Alkoholmissbrauchs auf die Kinder gelesen habe! wäre ich noch im Job gewesen, ich hätte es allen Kollegen und Kolleginnen als Pflichtlektüre ans Herz gelegt. U und den Patienten ebenfalls. ich habe bald 40 Jahre als Suchttherapeutin gearbeitet, ich weiß aber auch aus eigener Erfahrung, was das alles mit einem macht. ich fand das endlich mal laut gesagt wird, was die Kinder erleiden, neben der Angst, daß Mutter sterben könnte – was übrigens in Richtung Wunsch umschlagen kann- gibt es die Scham ( andere Kinder rümpfen die Nase, Mutter hat seit Wochen keine Wäsche gewaschen) , die Wut, die Hilflosigkeit, die Einsamkeit. und das unglaubliche Verantwortungsgefühl. für die Schwester, z.b.
und wenn die Mutter über ihre Belastung als alleinerziehende lamentiert, dann wird mir ganz schlecht. im Film super dargestellt. die Laura tonke stellt die Mutter oskarreif dar.
Mensch, Leute, ihr habt entweder keine Ahnung ( freut euch) oder seid so dermaßen ignorant, dass es weh tut.
ich danke der jungen Caroline Wahl. sie hat das Thema brillant beschrieben. wer das Buch mit Mitgefühl liest, der wird mir beipflichten.
und im Nachfolgebuch ist übrigens das Thema Schuldgefühle ebenfalls grandios dargestellt. wenn man nämlich beim 100.000sten Notfall einmal nicht da ist. und es gibt wahnsinnig viele Kinder von Alkoholikern. ich umarme euch. ihr habt wirklich einen schweren Stand.
liebe Leser, bitte lest das Buch noch einmal und fangt an zu verstehen. das würde die Welt ein kleines bisschen besser machen.
Die positiven Kommentare hier kommen anscheinend von Leuten aus Lebensbereichen die solche Schicksale wie im Film zumindest berühren – aber gerade deswegen spielen da eigene Emotionen, Erfahrungen und Projektionen mit rein. Sowohl Film als auch Buch stellen die Familienbeziehung unterkomplex da. Es gibt eine einzige irgendwie gemütliche Szene mit der Mutter, den Rest der Zeit sind beide Schwestern abgeklärt – keine Hin- und Hergerissenheit wie es in der Beziehung zu misshandelnden Elternteilen üblich ist. Trauma ist hier absolute Fehlanzeige – Tilda hat vor einiger Zeit mal ein paar Soft Drugs genommen, das wird dann wohl gleichgestellt mit Rand der Gesellschaft. Ihre Schwester Ida hat zwar keine Freund:innen, findet dann aber auf einmal doch ohne große Änderung der Umstände welche. Ja es gibt viele Hürden, sich Hilfe zu suchen (auch oder vor allem die intrinsischen), aber ein Kind mit so einer Mutter zurückzulassen, weil sie die entsprechende „Kämpferin“ geworden ist, ist nicht unebdingt unrealistisch, geht aber idR mit eigener Flucht und Abkappselung oder unerträglichen Schuldgefühlen einher. Dafür wie Tilda als so stark dargestellt wird und wie investiert sie in die Beziehung zur Schwester sein soll, auch eher unpassend. Buch und Film sind ein seichtes Sozialdrama mit altmodischer (und wie ich finde etwas unangenehmer) Märchengeschichte. Die junge Frau emanzipiert sich durch ihre enorme Intelligenz (zumindest mathematisch) und einen supererfolgreichen Mann, ihr Setting bleibt zurück. Als Person die in vergleichbaren Rahmen aufgewachsen ist und als verantwortungsvolle große Schwester finde ich es ein bisschen peinlich für die Autorin. Menschen die Parallelen zu ihrem eigenen Leben sehen, freuen sich vermutlich einfach über die Repräsentation, egal wie flach sie ausfällt (und das ist voll ok), alle anderen freuen sich über bisschen Einblick in etwas das unaussprechbar gilt – aber bloß nicht zu viel – und können dann zufrieden schlafen gehen, weil sie sich ja damit ganz ernsthaft damit auseinander gesetzt haben.
Guter Kommentar, durchdacht und differenziert geschrieben. Bin mit allem einverstanden, was Sie darüber schreiben, warum das Buch viele Menschen anzusprechen scheint. Ich bin aber enttäuscht, dass so viele die oberflächliche Darstellung nicht stört. Das ist keine Literatur- da hat es sich jemand sehr leicht gemacht. Das Thema verdient eine literarisch bessere Form. Deshalb für mich: das schwächste Buch, das ich seit sehr langer Zeit gelesen habe.
Wenn man es im ersten Satz der Rezension schon schafft, aus einer Halb- eine Stiefschwester zu machen, dann sollte man sich vielleicht überlegen, ob man dem Film die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet hat. Ich fand das Buch herausragend, die Tonalität von Tilda unfassbar lebendig und echt. Die Besetzung der Figuren ist sensationell, Laura Tonke spielt die namenlose Mutter Oscar-reif, Jannis Niewöhner und Zoë Baier sind Viktor und Ida. Nur Luna Wedler ist anders als im Buch: Meinem Empfinden nach ist ihre Tilda noch echter, als Carolina Wahl die Figur angelegt hatte. Und an die Menschen adressiert, die sich fragen, warum Tilda sich keine Hilfe holt, das wäre doch naheliegend und einfach. Sie haben zu Ihrem Glück weder mit Suchtkranken zu tun, noch mit Jugendämtern.
Vielen Dank für den Hinweis! Wir haben die Verwechslung korrigiert.
nochmals – und du schreibst es ja auch: die betreffenden Menschen haben sich GEFRAGT, warum Tilda sich keine Hilfe geholt hat. Zumindest gilt das für mich. ich habe das nicht per se kritisiert. Und ja, nicht alle Leser:innen/Zuschauer:innen haben den umfassenden Einblick in entsprechend belastenden Verhältnisse.