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Eine Begegnung mit Judith Hermann: »Glück ist immer der Moment danach«

Barbara Fellgiebel (links) traf Judith Hermann auf dem Louisiana Literaturfestival 2022 in Dänemark (Foto: tiger&elch)
Barbara Fellgiebel (links) traf Judith Hermann auf dem Louisiana Literaturfestival 2022 in Dänemark (Foto: tiger&elch)

Judith Hermann war 2022 als einzige deutschsprachige Autorin beim Louisiana Literaturfestival in Dänemark eingeladen (siehe Bericht). Barbara Fellgiebel traf sich mit ihr nach dem Auftritt der Autorin. Sie sprachen über Glück, Zuhausesein und Nachhausefinden.

Ich richte meinen Louisiana-Besuch nach Judith Hermanns Auftritten während des viertägigen Festivals aus und wähle den Samstag. Ich melde mein Interviewinteresse bei ihrem Verlag an und bin bereits vor dem Festival in regem Mailaustausch direkt mit ihr. Steigert das die Vorfreude und schürt es Erwartungen? Nein – ich habe keine Erwartungen, dann kann ich im Zweifel nicht enttäuscht werden. Nur Hoffnungen: dass mir im richtigen Moment die richtigen Fragen einfallen, dass ich nichts Wichtiges vergesse, dass wir uns sympathisch sind, dass sie mir etwas zu sagen hat und dies auch tun will.

Und sie will. Wir haben eine knappe Stunde zur Verfügung und führen alles andere als ein klassisches Interview. Vielmehr ein freudvolles, beglückendes Gespräch, das Befindlichkeiten verdeutlicht und Lust auf mehr macht.

Als Judith Hermann im Alter von 28 Jahren mit ihrem ersten Erzählband Sommerhaus, später debütierte, gelang ihr etwas ganz Seltenes: Ihr wurde vom damaligen »Literaturpapst« Marcel Reich-Ranicki eine ganz große Zukunft vorausgesagt. Er stellte ihr Buch im von allen Autoren gefürchteten Literarischen Quartett vor. Ein Satz habe ihm schlaflose Nächte bereitet: »Glück ist immer der Moment davor.«

Judith hat die Sendung bis heute nicht gesehen und meint: »Heute würde ich eher sagen: Glück ist immer der Moment danach. Man muss es erlebt haben.«

»Aber ich weiß noch genau, wie das ablief«, erzählt sie. »Wir waren in Frankfurt, in einem Restaurant wo im Nebenzimmer ein Fernseher lief. Mein Lektor wollte, dass wir den Beitrag zusammen sehen. Ich weigerte mich. Er lief hinüber und kam bald darauf mit Daumen-hoch und breitem Grinsen im Gesicht zurück. Es war kein Verriss. Dass es eine so überschäumende Lobrede war, konnte ich nicht wissen.«

Judith Hermann im Gespräch mit Marc-Christoph Wagner beim Louisiana Literaturfestival 2022 (Foto: Barbara Fellgiebel)
Judith Hermann im Gespräch mit Marc-Christoph Wagner beim Louisiana Literaturfestival 2022 (Foto: Barbara Fellgiebel)

Das Zuhausesein, Nachhausefinden spielt nicht nur bei und für Judith Hermann eine wichtige Rolle. Ihr jüngster, mehrfach preisgekrönter Roman Daheim wurde noch vor seinem phänomenalen Erfolg vom dänischen Verleger Arild Batzer auf Dänisch herausgebracht. Wie typisch, dass gerade dieser unkonventionelle Verleger Judith auf seiner imponierenden Autorenliste hat. Er verlegt nur ausländische Autoren und entdeckte Herta Müller vor ihrer Nobelpreisverleihung. Der gebürtige Norweger heißt Arild – der Name des Protagonisten in Daheim, in den sich die namenlose Ich-Erzählerin verliebt. Zufall? Judith lacht und wirkt wie eine Sphinx. »Ich schreibe an meinem Leben entlang – autofiktiv und lasse meine sehr kleine Personengalerie die Fragen stellen, die ich mir selbst stelle.«

Sie spielt mit Auslassungen. Für sie ist das Hier und Jetzt wichtig. Das beschreibt sie. Was der Leser daraus macht, sei seine Sache.

Wie kam sie von der Kurzgeschichte zum Roman? Es sind die Geschichten, die Forderungen stellen. Manche verlangen eine längere Form, andere begnügen sich mit der kurzen.

Ihr gesamtes Werk hängt zusammen. Daheim sei eine Utopie, ein Bogenschlagen von Sommerhaus, später. Alle Charaktere kommen immer wieder vor, sie werden älter, sie verändern sich.

Jahrelang habe sie sich gegen die Bezeichnung, sie sei die neue Stimme ihrer Generation, aufgelehnt und gemeint, sie schreibe nur für sich und aus sich. Jetzt, mit 52, dämmert ihr, dass sie einer Generation angehört.

»Ich denke von Tag zu Tag, dass ich ein abgekapseltes Individuum bin. Zuhause ist eine unlösbare Angelegenheit«, fährt sie fort. »Ich habe ein Zuhause, aber das ist nicht endgültig. Das ist der Ort, an dem ich wohne, zu dem ich morgen fahre. Aber sobald ich zuhause bin, löst es sich auf. Daheim ist ein utopischer Ort, den es zu erreichen gilt, aber den man nicht erreichen kann.«

Barbara Fellgiebel

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Barbara Fellgiebel ist langjährige Buchmessen- und Literaturfestival-Beobachterin. Sie verweigert sich nach wie vor erfolgreich den sozialen Medien, freut sich aber über Ihre Reaktionen hier als Kommentar.

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