Über Matias Grzegorczyks Debütroman »Wenn du schläfst«
Als seine Freundin Alex einen Tisch gegen sein krankes Bein wirft, verlässt dieser ihre Wohnung und humpelt zum Bahnhof. Dort nimmt er den Zug, um in eine Spezialklinik zu fahren. Ihm gegenüber sitzt ein Mann, von dem ein Strahlen ausgeht: Paul. Alex verliert Blut, viel Blut. Im Zug wird er ohnmächtig und Paul kümmert sich darum, dass er ins Krankenhaus gebracht wird. Als Alex in der Klinik aufwacht, liegt neben ihm Clemens, sein Bettnachbar. Clemens hat kein Gesicht. Es ist bei einem Unfall verbrannt. Statt eines Antlitzes hat er nur noch Haut. Was macht eine solche Erfahrung aus einem Menschen? Nichts Gutes. Clemens hasst alle. Clemens ist einsam. Clemens ist böse.
Das trifft sich ganz gut, denn ab der ersten Seite begreift man, dass Alex, der Held in Matias Grzegorczyks Roman, ebenfalls kein sympathischer Zeitgenosse ist. Alex ist schlau, kalt und hart. Und genauso einsam wie sein Bettnachbar, nur dass ihm eine nicht ganz so hoffnungslose Zukunft bevor steht wie Clemens, den keiner mehr angucken mag. Außer den Ärzten, für die er eine Sensation ist.
Alex und Clemens lernen sich also in der Zwangsgemeinschaft Krankenhaus kennen. Und müssen sich miteinander arrangieren. Zeit genug haben sie dazu dank ihrer Krankheitsgeschichten. Die beiden wollen keine Freunde werden. Etwas Unheimliches liegt zwischen ihnen oder geht vielmehr von Clemens aus. Alex ist der giftige Gesichtslose nicht geheuer, nicht zuletzt weil er Clemens’ Boshaftigkeiten gegenüber den Schwestern und anderen Patienten erlebt.
Zum Glück für Alex und für den Leser gibt es Paul. Der kommt Alex in der Klinik besuchen. Die beiden kommen sich näher und der zynische Großstadt-Alex wird zunehmend weicher. Paul nimmt Alex mit zu sich aufs Land, sie spielen Schach und kommen vorsichtig miteinander ins Gespräch. Paul, der ältere der beiden, scheint so etwas wie ein Gegenstück zu Alex zu sein. Jemand, der sich etwas geschaffen hat. Der an etwas glaubt. Der seine Erfahrungen gemacht hat und sich nach dem Überleben nun dem Leben widmet. Doch weiß man nichts Genaueres. Bis zur überraschenden Wendung am Ende der Geschichte.
Und wie war noch mal die Geschichte? Einen erkennbaren Handlungsstrang hat der Roman nicht unbedingt. Die Faszination speist sich aus dem Nicht-Wissen, Grzegorczyk hält den Leser hin und hält so auch gekonnt die Spannung. Manchmal fragt man sich dadurch allerdings, worum es denn eigentlich geht und auch, wann denn mal etwas passiert. Was ist denn das nun: Krankenhausthriller oder Entwicklungsroman oder ? Das Manko – wenn man so will – dieser Erzählweise ist, dass die einzelnen Handlungsstränge miteinander konkurrieren, ohne sich unbedingt gegenseitig zu befördern. Die kontinuierliche Orientierungslosigkeit, die so beim Leser durch sein begrenztes Wissen, das die Hauptfigur Alex transportiert, entsteht, spiegelt andererseits die Haltlosigkeit des Helden wider.
Sprachlich ist das Autorendebüt jedoch eine Entdeckung. Grzegorczyks Roman ist geprägt durch Dialoge und Alex’ Kommentare. Gerade auf der sprachlichen Ebene erwacht Alex zum Leben, die nüchternen Töne, seine harten Einschätzungen und die seltenen sinnlichen, unkitschigen Landschaftsbeschreibungen lassen seine Sehnsucht und Einsamkeit erahnen, ohne sie jemals zur Schau zu stellen.
Ebenfalls gelingt es Grzegorczyk vortrefflich, die Abgeschiedenheit des Krankenhauslebens einzufangen. Die Klinik mit ihren Patienten, die Klinik mit ihren Schwestern und Ärzten, Abhängigkeiten und Essenszeiten, Ängsten, Ohnmächten und Ordnungen erscheint als der Mikrokosmos, der für den Betroffenen zum Makrokosmos wird, zur einzigen erlebbaren Welt, die weit entfernt ist von der Welt der Gesunden. Eine Welt, in der es nicht nur »Es geht bergauf« gibt, die Annahme, dass schon alles wieder gut werden wird. Eine Welt, in der man sich anhören muss, dass Krankheit vor allem aus vielen Tiefs besteht. Grzegorczyk schönt nicht. Und: Er instrumentalisiert Alex’ Krankheit nicht. Das verdient Respekt. Als Mitbringsel bei Krankenbesuchen ist es deshalb allerdings nur eingeschränkt zu empfehlen. Aber alle die, die Klinikerfahrungen machen mussten, werden die inneren und äußeren Abläufe, teilweise schmerzlich, wiedererkennen.
Matias Grzegorczyk, Jahrgang 1965, erhielt 2002 den Literaturpreis der Stadt Hamburg und hat außerdem bereits im Jahrbuch für Literatur 2004 (Hamburger Ziegel) veröffentlicht. Freiberuflich ist er u. a. als Dozent an der Texterschmiede Hamburg tätig. Und arbeitet hoffentlich an einem zweiten Roman.
Anika Stracke
Matias Grzegorczyk: Wenn du schläfst: Roman. Gebundene Ausgabe. 2006. Tisch 7 Verlagsgesellschaft. ISBN/EAN: 9783938476123
Mir hat diese Besprechung sehr gut gefallen, und eigentlich wünschte ich mir mehr solcher Kritiken im literaturcafe.de, wenn ich da nur nicht immer der Verdacht wäre, hier handelt es sich um eine versteckte Anzeige: denn am Schluss werde ich mit dem Amazon-Link belästigt, der mich sofort zum Kaufen verführen soll.