
Übermorgen, am 9. Oktober 2025, wird in Stockholm der Literaturnobelpreis verkündet. Die Buchmacher haben ihre Favoriten, die Feuilletons ihre Wunschkandidaten. Und die Schwedische Akademie wird vermutlich wieder alle überraschen. Womit? Hier sind die garantierten Überraschungen!
Am Donnerstag, den 9. Oktober, um 13 Uhr öffnet sich die berühmte Flügeltür des Blauen Salons. Mats Malm, der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, tritt vor die versammelten Journalistinnen und Journalisten und verkündet einen Namen. Der Literaturnobelpreis 2025 wird vergeben – dotiert mit elf Millionen schwedischen Kronen, umgerechnet rund 970.000 Euro. Dazu kommen Medaille, Urkunde und die Gewissheit, dass künftig jedes Buch mit dem Etikett »Literaturnobelpreisträger« verkauft wird. Das kann die Verkaufszahlen vervielfachen. Die Favoriten könnten leer ausgehen. Oder auch nicht – aber darauf sollte man nicht wetten.
Die Schwedische Akademie, ein Gremium aus 18 Mitgliedern, das seit 1901 über den Nobelpreis für Literatur entscheidet, hat sich seit ihrer Neuausrichtung 2018 einen bemerkenswerten Ruf erarbeitet: Sie tut selten das, was alle erwarten. Nach dem Skandal um sexuelle Übergriffe reformierte sich die Akademie grundlegend – und scheint seither eine gewisse Lust an der Unberechenbarkeit zu pflegen. Das ist keine Kritik – nur Statistik.
Es ist Oktober, die Blätter fallen, und mit ihnen die Hoffnungen all jener Autorinnen und Autoren, die schon so oft als heiße Kandidaten gehandelt wurden, dass man sie mittlerweile getrost als abgekühlt bezeichnen könnte.
Die ewige Kandidatenshow
Haruki Murakami steht seit fast drei Jahrzehnten auf den Wettlisten. Der japanische Bestsellerautor, bekannt für seine Mischung aus magischem Realismus und Popkultur-Referenzen, taucht so zuverlässig unter den Top-Favoriten auf, wie die Akademie zuverlässig nicht-Murakami wählt. Solange er auf Platz eins steht, kann man sicher sein, dass er es nicht wird. Seine Romane wie »1Q84« oder »Kafka am Strand« sind weltweit Millionen-Seller – was in Stockholm möglicherweise mehr schadet als nützt.
Ähnlich verhält es sich mit Can Xue, der 72-jährigen chinesischen Meisterin des literarischen Experiments. Ihre surrealistischen, rätselhaften Geschichten werden seit Jahren hoch gehandelt, ihre Quote liegt aktuell bei 6:1 – das bedeutet: Buchmacher halten sie für sehr wahrscheinlich. In Nobelpreislogik bedeutet das: keine Chance. Zum Vergleich: Eine Quote von 33:1, wie Han Kang sie 2024 hatte, entsprach etwa drei Prozent Wahrscheinlichkeit. Sie gewann.
Joyce Carol Oates, geboren 1938, also inzwischen 87 Jahre alt, hat mehr Romane geschrieben, als die meisten Menschen Bücher gelesen haben. Die US-Amerikanerin, bekannt für ihre schonungslosen Gesellschaftsporträts, veröffentlichte seit 1963 über 40 Romane. Sie gilt seit Jahrzehnten als Kandidatin – was vermutlich der einzige Grund ist, warum sie den Preis nie bekommen wird. Die Akademie hat eine Allergie gegen das Erwartbare.
Die Überraschung als Programm
Britische Buchmacher wie Ladbrokes führen seit Jahrzehnten Quoten, welche Autorinnen und Autoren die besten Chancen auf den Nobelpreis haben. Das Kuriose: Diese Wetten liegen beim Literaturnobelpreis auffallend oft daneben. Nicht aus Unwissen, sondern aus Prinzip.
Han Kang stand mit der erwähnten Quote von 33:1 auf der Liste. Die rund drei Prozent Wahrscheinlichkeit waren genau der Sweet Spot der Akademie: der Bereich, in dem kaum jemand damit rechnet.
Wer also 2025 gewinnen wird? Garantiert nicht Adonis, der 95-jährige syrisch-libanesische Dichter (bürgerlich Ali Ahmad Said), einer der bedeutendsten arabischen Lyriker. Auch nicht Salman Rushdie, der nach dem Messerattentat 2022 und seinem Buch »Knife« sowohl politische als auch literarische Gründe auf seiner Seite hätte – was seine Chancen vermutlich schmälert, weil zu offensichtlich wäre das Signal. Und schon gar nicht Mircea Cărtărescu, der rumänische Autor opulenter, traumartiger Romane, der auf den vorderen Plätzen auftaucht – was ihn sofort verdächtig macht.
Die anderen Kandidaten
Zwischen den ewigen Favoriten und den völlig Unbekannten gibt es eine interessante Grauzone:
Dan Brown, ja genau, der Autor von »The Da Vinci Code«. Die Begründung der Akademie könnte lauten: »Für seine beispiellose Fähigkeit, Millionen zum Lesen zu bringen und dabei komplexe Verschwörungstheorien in eine Form zu gießen, die selbst Leute verstehen, die sonst nur die Etiketten von Shampoo-Flaschen lesen.« Das wäre der ultimative Tabubruch – und würde die literarische Welt in Schockstarre versetzen.
Sally Rooney, die irische Autorin, die Millennials das Gefühl gibt, verstanden zu werden. Ihre Werke handeln von Menschen, die nicht wissen, wie sie kommunizieren sollen. Die Begründung: »Für die präzise Kartografierung einer Generation, die zwischen Ironie und Aufrichtigkeit schwankt.« Mit 34 Jahren wäre sie die jüngste Preisträgerin seit Rudyard Kipling, der 1907 mit 41 Jahren ausgezeichnet wurde. Perfekt für eine Akademie, die gern überrascht.
Ein Social-Media-Account eines verstorbenen Autors, betrieben von dessen Erben. Die Akademie könnte digitale Posthum-Literatur als neue Form anerkennen. »Für die Fortführung eines Œuvres im Zeitalter der sozialen Medien – 280 Zeichen als moderne Haiku-Form.« Ein Preis, der zugleich Debatten über Autorschaft, Erinnerung und KI befeuern würde.
Ein Kollektiv von fünf Autorinnen, die gemeinsam unter einem Namen publizieren. Die Akademie müsste entscheiden, ob alle fünf auf die Bühne dürfen oder würfeln. Das wäre ein Statement gegen den Geniekult – und würde die Preisverleihung zur Performance machen.
Haruki Murakami, aber diesmal wirklich. Nach 30 Jahren wäre das die größte Überraschung von allen – gerade weil niemand mehr daran glaubt. Die Akademie könnte sagen: »Manchmal warten wir so lange, bis das Erwartbare wieder unerwartet wird.«
Die eigentlich aussichtslosen Kandidaten mit überraschend guten Chancen
Thomas Pynchon, der legendäre Eremit der amerikanischen Literatur, hat sich seit Jahrzehnten dem öffentlichen Auftritt entzogen. Seine Werke sind komplex, widerspenstig, für viele unlesbar – perfekt für einen Preis, der gelegentlich hermetische Literatur liebt. Die Akademie könnte ihn wählen und sagen: »Literatur muss nicht gefallen, sie muss bedeutend sein.« Die Preisverleihung würde ohne Preisträger stattfinden. Konsequent.
Anne Carson, die kanadische Dichterin und Altphilologin, bewegt sich zwischen Antike und Moderne, Lyrik und Essay. Ihre Texte sind hybrid, experimentell, oft rätselhaft – genau das, was die Akademie liebt, wenn sie sich selbst ernst nimmt. Allerdings: Sie steht aktuell auf Platz eins der Wettlisten. Und das ist selten ein gutes Zeichen.
Don DeLillo, der große Chronist amerikanischer Paranoia, wäre eine sichere Wahl – was gegen ihn spricht. Vielleicht wählt ihn die Akademie, um zu zeigen, dass sie auch das Erwartbare wagt. Meta-Nobelpreis sozusagen.
Gerald Murnane, der australische Autor, der sein Heimatdorf kaum verlässt, schreibt introspektive Texte über Innenwelten. »Für die Erschließung weiter Landschaften ohne zu reisen – eine Literatur der Imagination gegen die Reizüberflutung.« Eine plausible Begründung, wenn da nicht die Quote von 10:1 wäre. Zu bekannt, um gewählt zu werden.
Margaret Atwood, 85 Jahre alt, Autorin von »The Handmaid’s Tale«, literarische Institution. Seit Jahren Favoritin – was normalerweise gegen jemanden spricht. Aber vielleicht ist sie schon so lange im Gespräch, dass es wieder originell wäre, sie zu ehren. Berechenbarkeit als höchste Form der Unberechenbarkeit.
Die Mathematik des Unerwarteten
In den letzten Jahren lagen die Buchmacher öfter daneben als richtig. Treffer gab es zwar – 2008 Le Clézio, 2009 Herta Müller, 2011 Tomas Tranströmer – doch die Liste der Überraschungen ist länger. Die Schwedische Akademie hat ihre Unberechenbarkeit professionalisiert.
Das bedeutet für den 9. Oktober: Wer in den Wettlisten weit oben steht, wird es nicht. Wer seit Jahren genannt wird, kann getrost ausgeschlossen werden. Und wer eine Quote unter 10:1 hat, beweist damit vor allem, dass er keine Chance hat.
Der einzig sichere Tipp
Wenn Sie am 9. Oktober wetten wollen, dann auf jemanden, der in keiner Top-20-Liste auftaucht, dessen Name höchstens in einem obskuren Feuilleton-Artikel vorkommt und der idealerweise aus einem Land stammt, das noch nie den Literaturnobelpreis erhalten hat. Oder Sie setzen auf jemanden, der kürzlich verstorben ist – und dessen Tod die Akademie noch nicht bemerkt hat. Das wäre immerhin originell.
Oder Sie warten einfach bis 13 Uhr, lesen einen unbekannten Namen, googeln verzweifelt und finden eine 83-jährige Lyrikerin aus der Mongolei, die in ihrer Heimat als Nationalheiligtum gilt. Dann nicken Sie wissend und sagen: »Natürlich! Damit habe ich gerechnet!«
Das ist die eigentliche Tradition des Literaturnobelpreises: nicht die Verleihung selbst, sondern das kollektive Vorgeben, man hätte die Entscheidung kommen sehen. Die Akademie hat das perfektioniert – sie wählt jemanden, den kaum jemand kannte, und alle tun so, als hätten sie genau das erwartet.
Und nächstes Jahr? Dann steht Murakami wieder auf Platz eins, Can Xue auf Platz zwei, Joyce Carol Oates geht auf ihren 88. Geburtstag zu, die Wettbüros aktualisieren ihre Quoten, und das Spiel beginnt von vorn. Mit der kleinen Chance, dass diesmal alles ganz anders kommt. Mögen alle Erwähnten noch lange leben!
Manche Traditionen sind zu schön, um sie zu brechen. Der Literaturnobelpreis gehört dazu – gerade weil er sich selbst nicht so ernst nimmt, wie andere ihn nehmen. Man muss ihn nur abwarten. Am 9. Oktober um 13 Uhr. In Stockholm. Wenn wieder eine Tür aufgeht.
Siglinde Auberle