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1917: Im Kino nichts Neues – Der Erste Weltkrieg als Action-Tapete

Ein Mann, sie alle zu retten: George MacKay als Lance Corporal William Schofield im Film »1917« (Foto: Universal Pictures)
Ein Mann, sie alle zu retten: George MacKay als Lance Corporal William Schofield im Film »1917« (Foto: Universal Pictures)

Im Film »1917« von Sam Mendes wird der Erste Weltkrieg als Action-Tapete missbraucht. Es ist, als schaut man sich im Kino das Let’s Play eines schlechten Computerspiels an. Welch ein Gegensatz zum Buch »Im Westen nichts Neues«.

Die ersten Minuten dieses Films wirken wie die Rückseite einer Computerspielpackung. Dort stehen immer so Dinge wie: »Außerirdische greifen an, und du allein hast es in der Hand, die Welt zu retten«. Damit ist alles zur Begründung gesagt, warum man anschließend auf alles schießt, was sich bewegt.

Will seinen Bruder und 1.600 Mann retten: Dean-Charles Chapman als Lance Corporal Tom Blake (Foto: Universal Pictures)
Will seinen Bruder und 1.600 Mann retten: Dean-Charles Chapman als Lance Corporal Tom Blake (Foto: Universal Pictures)

So ist es auch im Film »1917«. Am Anfang steht ein Auftrag, den zwei unbedeutende junge Soldaten erhalten. »Erreichen Sie Colonel Mackenzie mit seinen 1.600 Mann und überbringen Sie ihm den Befehl, den Angriff abzubrechen, damit die Soldaten nicht in einem Hinterhalt landen.«

In Computerspielen wird gern die vollbusige Gespielin des Helden entführt, um eine weitere persönliche Motivation fürs Erledigen des Auftrags zu konstruieren, im Film ist die emotionale Brücke der Bruder des einen Soldaten, der zu den 1.600 Mann gehört. Nur völlig naive Kinozuschauer würden es als Spoiler empfinden, wenn man ihnen sagt, dass es natürlich gelingt, den Angriff in letzter Sekunde abzublasen.

Dazwischen liegen in »1917« nahezu erzählungsfreie 110 Minuten, in denen sich die beiden Soldaten hinter der Feindeslinie durchkämpfen. Die Besonderheit: Alles wird wie in einem Computerspiel in Echtzeit gezeigt – mit einem kurzen Blackout-bedingten Zeitsprung. Wie in einem Third-Person-Shooter gibt es in diesem Film keine sichtbaren Schnitte, sondern die Kamera umkreist körperlos beständig das Geschehen. Das Ganze wirkt wie ein Let’s-Play-Video auf YouTube, bei dem die Stimme von Gronkh fehlt.

Auch in seiner Erzählweise gleicht der Film einem Computerspiel: Die Mitfahrgelegenheit in einem Militärlaster endet sehr bald, denn dummerweise ist eine Brücke zerstört, also muss William Schofield (George MacKay)schon wieder allein weiterziehen. (Foto: Universal Pictures)
Auch in seiner Erzählweise gleicht der Film einem Computerspiel: Die Mitfahrgelegenheit in einem Militärlaster endet sehr bald, denn dummerweise ist eine Brücke zerstört, also muss William Schofield (George MacKay) schon wieder allein weiterziehen. (Foto: Universal Pictures)

Das ist – wenn man sich das Making-Of anschaut – natürlich viel organisatorische Leistung und Sportlichkeit, Kamera und Mikro beständig zu tragen, an Drähten zu führen, mit Drohnen herumzufliegen oder mit Autos und Motorrädern durch die Gegend zu fahren. Den Rest fügt die digitale Tricktechnik zusammen.

Umso merkwürdiger mutet es an, dass der Film trotz fehlender Schnitte voll von Anschluss-Fehlern wie bei einem alten Western ist. Da ist der Protagonist eben noch unter Schutt begraben – und Sekunden später ist er schon wieder entstaubt. Da steigt der Protagonist nass aus dem Wasser – und Sekunden später ist schon wieder alles abgetrocknet. Wunden und Verletzungen heilen schnell und sind folgenlos wie bei Bruce Willis in »Die Hard«. Und wie in billigen Action-Filmen wird der Protagonist minutenlang von seinen Feinden mit Gewehren verfolgt – und nicht getroffen, während er selbst einen Scharfschützen mit dem normalen Gewehr mit zwei, drei Schüssen erledigt. Ein Luftkampf zwischen Doppeldeckern in unmittelbarer Nähe? Da tritt man doch gerne mal aus der Deckung auf die grüne Wiese, um das Schauspiel zu bewundern.

Der Film ist voll von solchen haarsträubenden und unglaubwürdig inszenierten Momenten. Nie taucht man emotional wirklich in die Schrecken des Krieges ein. Die Schützengräben und Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs werden als Action-Tapete missbraucht. Das Ganze könnte auch im Zweiten Weltkrieg oder auf einem fernen Planeten spielen, für die Ballerei und Rumrennerei ist dies nicht von Belang.

Ist das matschige Schlachtfeld am Beginn mit toten Pferden und Leichenteilen grausam dekoriert, folgt schon bald ein merkwürdiger Leichen-Gag wie aus einem humoristischen Splatter-Film.

Befehlsgeber General Erinmore (Colin Firth) (Foto: Universal Pictures)
Befehlsgeber General Erinmore (Colin Firth) (Foto: Universal Pictures)

Außer Frage ist, dass die beiden jungen Darsteller der Soldaten, George MacKay und Dean-Charles Chapman, in diesem Film sehr gute Arbeit leisten. Doch seltsam mutet es an, dass die Hauptdarsteller weitestgehend unbekannt sind – während die Nebenrollen der Kommandierenden, zwischen denen der Befehl zu übermittelt ist, mit englischen Topschauspielern besetzt sind. Colin Firth muss unbedingt Benedict Cumberbatch erreichen. Ist das irgendwie metaphorisch zu deuten?

Befehlsempfänger Colonel Mackenzie (Benedict Cumberbatch) (Foto: Universal Pictures)
Befehlsempfänger Colonel Mackenzie (Benedict Cumberbatch) (Foto: Universal Pictures)

Ebenfalls auffällig ist, dass die beiden Generäle eine überaus literarisch-lyrische Sprache sprechen. Und auch sonst fallen bisweilen Gedichte und Worte seltsam aus der Reihe. Ob es daran liegt, dass das deutsche Synchrondrehbuch von keinem geringerem stammt als von einem der führenden und besten Literatur-Übersetzer Dirk van Gunsteren?

So bleibt noch die weitere seltsame Frage: Warum bekommt solch ein haarsträubend schlechter Film schon jetzt so viele Auszeichnungen? Warum ist er als bester Film und für das beste Drehbuch(!) für den Oscar nominiert? Lassen sich die Jurys so schnell von dieser digital überzuckerten Materialschlacht blenden, während die echten Schlachten erzählerisches Beiwerk sind? Auszeichnungen für diesen Film sind fast schon eine Beleidigung für alle, die in ihren Filmen wirklich etwas glaubhaft erzählen wollen.

Ältere Taschenbuchausgabe von »Im Westen nichts Neues«
Ältere Taschenbuchausgabe von »Im Westen nichts Neues«

Denn das glaubhafte und erschütternde Erzählen bringt uns schließlich zur Literatur, denn es ist ein Werk, das unzertrennbar mit dem Grauen des Ersten Weltkriegs verbunden ist: »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque. Erzählerisch dichter und eindringlicher kann man die Grausamkeit des Krieges nicht schildern. Bei Remarque sind wir ebenfalls ganz dicht dran an den Soldaten. Mendes schafft es nicht mal ansatzweise, in diese emotionale Nähe zu kommen.

Die Kamera stets dicht dran und drumherum reicht eben nicht.

Wolfgang Tischer

Film: »1917«. USA/England 2019. Regie: Sam Mendes. Drehbuch: Krysty Wilson-Cairns und Sam Mendes. Mit Dean-Charles Chapman, George MacKay, Daniel Mays u. a. Laufzeit: 119 Min. FSK 12. Universal Pictures. Kinostart: 16. Januar 2020

Buch: E.M. Remarque; : Im Westen nichts Neues: Roman. Ohne Material. Taschenbuch. 2014. KiWi-Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783462046335. 10,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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