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Jenny Erpenbeck gewinnt den Deutschen Buchpreis 2015 – nicht

Jenny Erpenbeck: Gehen, Ging, Gegangen

»Wenn Jenny Erpenbeck den Deutschen Buchpreis gewinnt«, sagte mir mein Buchhändler in der vergangenen Woche, »dann wäre das eine politische und keine literarische Entscheidung.«

Die Jury hat sich gegen Erpenbeck entschieden und den Preis an Frank Witzel vergeben. Das ist gut so, denn »Gehen, ging, gegangen« von Jenny Erpenbeck ist ein über weite Strecken literarisch misslungenes Buch, obwohl es eines der wichtigsten Themen des Jahres 2015 aufgreift.

Der Protoyp des Gutmenschen

Richard, Erpenbecks Hauptperson, engagiert sich für Flüchtlinge. Er ist der Prototyp des bürgerlich-intellektuellen Gutmenschen, der sich zunächst aus Neugier und Interesse mit dem Thema beschäftigt und sich schließlich aktiv für Asylsuchende einsetzt.

Der Umgang mit den Flüchtlingsströmen ist das bestimmende Thema in Deutschland im Herbst 2015. Doch man kann nicht sagen, dass sich Erpenbeck mit ihrem Buch ans Thema dranhänge. Ein Verlagsbuch hat eine lange Vorlaufzeit. Die Handlung ist um die Jahreswende 2013/2014 angesiedelt, und das Manuskript war mit Sicherheit schon 2014 fertiggestellt, also lange, bevor das Thema in den Medien rauf- und runterdekliniert wurde, Einzelschicksale geschildert und in Online-Specials Dublin II und andere bürokratische Regelungen der EU-Länder erläutert wurden.

Bei Jenny Erpenbeck muss all dies noch ihr Richard übernehmen. Das ist die größte Schwachstelle im Buch. Richard steht im Roman für den DAL, den dümmsten anzunehmenden Leser. Richard ist kein Mensch, keine besonders tief herausgearbeitete Romanfigur. Er bleibt weitestgehend blass, hat jedoch die Aufgabe, in kindlicher Naivität nachzufragen, damit der Leser an seiner Stelle die Antworten bekommt. Richard ist seit kurzem im Ruhestand, doch davor scheint er in einer Erdhöhle gelebt und vom Leben so gut wie nichts mitbekommen zu haben. Er ist Professor für alte Sprachen. Haha, sagen da einige schmunzelnd, wenn ich ihnen davon erzähle, aber solche Geisteswissenschaftler seien doch weltfremd. Das passe doch. Richard jedoch ist in der Lage, ein Navigationsgerät zu bedienen. Würde man auf dem Niveau der Vorurteile bleiben, hätte man diese Passage streichen müssen, denn ältere Geisteswissenschaftler können mit diesen Geräten nicht umgehen. Nein, auf dieser Ebene sollten wir Romanfiguren nicht beurteilen.

»Natürlich wusste Richard …«

Dennoch ist Richard eine holzschnittartige Stellvertreterfigur. Wenn Passagen mit einem »Natürlich wusste Richard …« eingeleitet werden, dann ist klar, dass das Folgende nur für den Leser erwähnt wird. Ein Rechtsanwalt muss dem Altphilologen den Tacitus vorlesen, den Richard zwar auswendig kennt, aber eben der Leser nicht. Es wäre konsequent gewesen, hätte Erpenbeck ihren Richard sagen lassen: »Natürlich kenne ich diese Passage, aber es wäre nett, wenn Sie dennoch das Buch aus dem Regal ziehen und diese Stelle aus »Germania« für den Leser dieses Romans vorlesen«. Plumper als bei Erpenbeck kann man als Autor Informationen kaum transportieren.

Das ganze Buch verfolgt das Anliegen, dem Leser Flüchtlingsschicksale exemplarisch nahezubringen und mit welchen irrsinnigen und ungerechten bürokratischen Regelungen die hilfesuchenden Menschen konfrontiert werden. Erpenbeck konnte beim Schreiben noch nicht wissen, dass all diese Dinge nun in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Umso erstaunlicher ist es, wie sehr sie bereits in ihrem Buch punktgenau auf die Vorurteile eingeht, die auch jetzt immer wieder zu hören sind, z. B. jenes, dass es ein Widerspruch sei, dass arme Flüchtlinge sich teure Smartphones leisen können. Erpenbeck hat viel recherchiert, hat sich mit Flüchtlingen unterhalten. Daher hat ihr Roman über weite Strecken einen eher dokumentarischen Tonfall, der wenig berührend ist. Dass sie Flüchtlingskitsch meidet und ihr dann doch bewegende Momente gelingen, zählt zu den Stärken des Buches. Auf der anderen Seite wirken immer wieder auftauchende sprachspielerische Momente wie klobige Fremdkörper. Zudem liebt Erpenbeck wiederkehrende Umschreibungen, die in ihrer unnötigen Penetranz eher nerven und nicht wirklich komisch sind.

Mehr Lehrbuch als Literatur

Fein ist die Szene, in der das mit Richard befreundete Ehepaar begeistert von seinem Italienurlaub berichtet und dass man nun quasi grenzenlos dorthin reisen könne. Der halbwegs wache Leser erkennt die Ironie. Doch für den DAL muss Richard sie nochmals ausführlich breittreten.

Jenny Erpenbecks »Gehen, ging, gegangen« ist daher mehr Lehrbuch als literarisches Meisterwerk. Ohne Frage hätte mit einem Buchpreisgewinn die Jury und der preisausrichtende Börsenverein das Thema Flüchtlinge nochmals deutlicher in den Fokus der Buchmesse rücken können.

Allerdings bewirkte allein die Platzierung unter den 6 Titeln der Shortlist eine gesteigerte mediale Beachtung für das Buch und sein Thema. Schließlich galt Erpenbeck bei vielen als Favoritin. Auf den Podien der Buchmesse hätte sie eine gute Figur abgegeben und von ihren Recherchen aus erster Hand berichten können. Jedoch wird Erpenbeck dies auch ohne den Preisgewinn tun.

In der Tat wäre der Buchpreis literarisch nicht zu rechtfertigen gewesen, Jenny Erpenbeck hat weitaus bessere Bücher geschrieben. Doch trotz der eklatanten Schwächen ist »Gehen, ging, gegangen« der dokumentarische Roman dieser Zeit und dieser Tage.

Wolfgang Tischer

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen: Roman. Gebundene Ausgabe. 2015. Albrecht Knaus Verlag. ISBN/EAN: 9783813503708. 12,90 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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2 Kommentare

  1. Na so schlecht war es nicht, aber wahrscheinlich fehlt noch die zeitliche Distanz, damit man Aktualität literarisch empfinden kann, beim Witzel ist das dann schon etwas leichter, aber dieses Buch muß ich mir erst zum Geburtstag schenken lassen

  2. Ich hätte die Auszeichnung für Jenny Erpenbeck ebenfalls begrüßt. Gestern vor der Vergabe schrieb ich schon, dass es trotz aller literarischer Schwächen ein wichtiges Zeichen wäre.
    Auch wenn Erpenbeck sich beim Schreiben ihres Romans mit einer Situation befasste, in der die heutigen Flüchtlingszahlen und die damit zu lösenden Probleme noch nicht absehbar waren und sie deshalb auch keinen Lösungsansatz für die Flüchtlingssituation aufzeigt, so macht sie die Geschichte jedes Einzelnen sichtbar und greifbar – und das hätte eine Auszeichnung verdient gehabt.

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