
Tahsim Durgun hat Millionen Video-Abrufe bei TikTok, ist seit Kurzem auch Bestseller-Autor und wirkt dennoch überwältigt. Er sagt, er komme »nicht darauf klar, wie viele Leute hier stehen«. Im Gespräch mit Wolfgang Tischer vor Publikum auf der Leipziger Buchmesse erzählt Tahsim Durgun von der Entstehung seines Buches »Mama, bitte lern Deutsch« und warum sein Vater eher eine Nebenrolle spielt.
Reale Menschen statt Klickzahlen
Reale Menschenmassen scheinen doch beeindruckender als Views und Klickzahlen. Alle warten gespannt am zweiten Tag der Leipziger Buchmesse 2025 vor der Bühne in Halle 5, darunter viele, die einen ähnlichen kulturellen Hintergrund haben wie Durgun. Man sieht Mädchen mit Kopftüchern, die hinterher noch Selfies mit Durgun machen, auch wenn sein Zeitplan auf der Messe eng ist.
Es scheint zu stimmen, was Durgun kurz zuvor sagt: Sein Buch erzähle nicht nur seine Geschichte, sondern die Geschichte vieler Menschen in diesem Land, die nicht so recht dazugehören. »Unser Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft«, lautet der Untertitel.
Tahsim Durgun, mittlerweile Ende 20, ist in Oldenburg geboren und aufgewachsen. Dort studiert er Deutsch und Geschichte auf Lehramt.
Erst »mit 24 oder 25« sei er so richtig Deutscher geworden, denn da bekam er seinen deutschen Pass. Seine Eltern, die seit über 30 Jahren in Deutschland leben, sind jesidische Kurden aus der Türkei. Das mit seiner deutschen Staatsbürgerschaft bzw. jahrelangen Nicht-Staatsbürgerschaft sei »ein bisschen komplizierter«. Dies auf der Bühne aufzudröseln, wäre wahrscheinlich zu langweilig.
Von TikTok zur Buchbühne
Die Planung eines Gesprächs auf der Leipziger Buchmesse hat oft eine längere Vorlaufzeit. Schon im Herbst hört man sich bei den Verlagen um, was im Frühjahr erscheinen wird und welche Autorinnen und Autoren für die Bühne interessant sein könnten. »Da kommt ein Buch eines erfolgreichen TikTokers, der könnte was sein«, sagte die Verlagsmitarbeiterin von Droemer Knaur bereits im Oktober. Ja, der könnte was für Leipzig sein.
Durgun berichtet in launigen Videos auf TikTok und Instagram aus seiner migrantischen Lebenswelt. Oft spricht er mit seiner Mutter, die in gebrochenem Deutsch antwortet und in den Videos nicht zu sehen, sondern nur zu hören ist. Er gibt Tipps zur Kommasetzung in WhatsApp-Nachrichten, die inhaltlich einen eher rauen Ton anschlagen. Durgun kommentiert sarkastisch, zynisch und ironisch in scheinbar emotionsloser Art auch politische Entwicklungen: »Die Top-3-Zufluchtsorte, wo ihr euch verstecken könnt, wenn ihr abgeschoben werden sollt.«
Medienpräsenz und Bestsellerlisten
Dann rückt die Leipziger Messe näher und Tahsim Durgun ist plötzlich medial omnipräsent. Der SPIEGEL besucht ihn an der Uni in Oldenburg und schreibt ein Porträt. Jo Schück interviewt ihn für »Aspekte«, Jan Böhmermann hat mit ihm gekocht, und nicht zuletzt steigt das Buch »Mama, bitte lern Deutsch« sofort auf Platz 1 der entsprechenden SPIEGEL-Bestsellerliste ein. Man zittert, ob so ein Medienstar dann überhaupt noch zum Gespräch des literaturcafe.de kommt. Aber er ist da. Verlässlich. Wie schön!
Viele unentdeckte Geschichten

Was bedeutet das Buch für Tahsim Durgun? Ist es nur ein Baustein seiner aktuellen Medienkarriere? Das Buch sei alles andere als ein Nebenprodukt, sagt er. Er habe jetzt »sehr krass Bock aufs Schreiben bekommen« und könne sich vorstellen, dass vielleicht noch weitere Bücher folgen. Schreiben habe ihm immer schon Spaß gemacht, er sei auch in der Schreibwerkstatt seiner Schule gewesen und habe schon immer Tagebuch geschrieben. Tatsächlich seien Verlagshäuser auf ihn zugekommen, wofür er sehr dankbar sei. Er wisse, dass es viele Talente gebe, die hart dafür kämpfen müssten, um dahin zu kommen. »Fördert junge Talente«, ruft er den Verlagshäusern zu, »es gibt noch sehr viele unentdeckte Geschichten da draußen.«
Studium, Karriere und der Druck von Mama
Wird Durgun bei den aktuellen Erfolgen sein Studium noch abschließen? Den Bachelor hat er ja bereits. Es gebe den Kodex, erwidert Durgun, dass man Studierende nicht nach dem Studium frage, aber seine Mutter würde es »wohl nicht so geil finden«, wenn er das Studium nicht beendet.
Im Moment fehle die Zeit für die Masterarbeit, denn gerade sei er Autor. Das Publikum lacht.
Das Buch sei offiziell kein Roman, sondern zähle zum Sachbuch, lese sich aber wie ein Roman, ordnet Tahsim Durgun sein Werk ein. Nicken im Publikum. Zu 95 % sei es seine Geschichte, so Durgun. Dennoch erzähle es nicht nur seine Geschichte, sondern auch die von vielen Menschen da draußen. Er freue sich, dass auf TikTok viele berichten, dass sie sich in diesem Buch wiedersehen. Dies erfülle ihn sehr, und er sei dankbar dafür.
Eine Hommage an die Mutter
Das Buch sei für ihn auch eine intensive Therapie gewesen, denn er habe viele Gespräche mit seiner Mutter geführt. Schreiben werde oft romantisiert, aber er habe durchaus Probleme gehabt, die Gefühle seiner Mutter und anderer niederzuschreiben. Das Buch hat Tahsim Durgun seiner Mutter gewidmet. Der Humor, auch der seiner Videos, habe seine Grenzen, sagt Durgun. So ist das Buch auch eine emotional berührende Hommage an seine Mutter.
Obwohl selbst keine Akademiker, hätten ihm seine Eltern immer mitgegeben, dass Bildung das höchste Gut sei. Auch wenn seine Mutter das Buch auf Deutsch nicht lesen kann, erfülle sie das Werk mit Stolz. Es sei ein Symbol des Ankommens, des Mitglied-der-Gesellschaft-Seins. Klickzahlen hätten sie nie interessiert, doch jetzt wolle sie wissen, wie oft sich das Buch verkauft habe. Durguns größter Wunsch wäre es, dass sein Buch ins Türkische, Kurdische und Arabische übersetzt wird.
Und der Vater?
Nachdem es in den Videos und im Buch viel um die Mutter geht, muss noch die Frage nach dem Vater gestellt werden. Oftmals ist ja die – bisweilen auch nicht vorhandene – Vaterfigur ein Orientierungspunkt. Man denke an den Roman »Vatermal« von Necati Öziri oder an den Song »Baba« von Apsilon.
»Es mag sich vielleicht etwas gemein anhören«, sagt Durgun, »aber mein Vater hat in der Dramaturgie meiner Geschichte nicht so den richtigen Platz gefunden.« Sein Vater wolle aber auch gar nicht im Vordergrund stehen. Er sei nicht so aufmerksamkeitsliebend. Er sei viel arbeiten gewesen, und seine Mutter daher die tragende Säule in der Familie gewesen. Eine Zeile im Buch fasse das sehr gut zusammen. Da ist die Szene, in der Tahsim mit seinen Schwestern auf einem Feld Mais klaut und die Eltern im Auto warten. Und da heißt es: »Wir setzten uns in das klapprige Auto, vorne saßen unsere Eltern: mein Baba am Steuer des Autos, meine Mutter am Steuer des Familienlebens.«
Wolfgang Tischer
Tahsim Durgun: »Mama, bitte lern Deutsch«: Unser Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft. Broschiert. 2025. Knaur HC. ISBN/EAN: 9783426561140. 18,00 € » Vorbestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Hinweis: Leider gibt es von diesem Gespräch am 28.04.2025 keinen Mitschnitt für unseren Podcast. Aufgrund technischer Probleme konnte die Aufzeichnung auf der Leipziger Buchmesse nicht wie geplant erfolgen.