StartseitePodcast des literaturcafe.deStuttgarter Bücherrunde 2025 als Podcast: Am Schluss erfrischend uneinig

Stuttgarter Bücherrunde 2025 als Podcast: Am Schluss erfrischend uneinig

Die Stuttgarter Bücherrunde 2025: (v.l.n.r.) Wolfgang Tischer  (Moderation), Fleur Hummel, Kristoffer Mauch, Mareike Winter und Michael Steffel
Die Stuttgarter Bücherrunde 2025: (v.l.n.r.) Wolfgang Tischer (Moderation), Fleur Hummel, Kristoffer Mauch, Mareike Winter und Michael Steffel

Zum 10. Mal fand auf den Stuttgarter Buchwochen die Stuttgarter Bücherrunde statt. In diesem Jahr diskutierten je zwei Menschen aus Buchhandlungen und Bibliotheken über vier unterschiedliche Romane – vom autobiografischen Buch eines Punk-Musikers über einen freikirchlichen Coming-of-Age-Roman bis hin zu über 1.200 Seiten ehemalige Fanfiction. Hören Sie die Diskussion als Podcast.

Mareike Winter von der Buchhandlung Taube in Waiblingen, Kristoffer Mauch von der Buchhandlung Back in Weinsberg, Fleur Hummel von der Stadtbibliothek Reutlingen und Michael Steffel von der Stadtbibliothek Aalen tauschten sich über die von ihnen ausgesuchten Bücher aus. Wolfgang Tischer vom literaturcafe.de moderierte den Abend und zog sich diesmal bewusst aus der Diskussion zurück, um – wie in der ersten Ausgabe 2016 – den vier Gästen das Feld zu überlassen.

Die vier besprochenen Bücher

Die vier besprochenen Bücher 2025
Die vier besprochenen Bücher 2025

Die vier diskutierten Titel spiegeln die große Bandbreite der aktuellen Bücher wider.

  • »Nur für Mitglieder« von Thorsten Nagelschmidt (März Verlag) ist eine autobiografische Reisebeschreibung des Punk-Musikers Thorsten Nagelschmidt (Muff Potter), der vor der weihnachtlichen Depression nach Gran Canaria flüchtet und dort die TV-Serie »The Sopranos« durchbingt. Das Buch verbindet Gesellschaftsbeobachtung im All-inclusive-Resort mit persönlichen Reflexionen über Depression und kulturgeschichtlichen Exkursen über Weihnachten.
  • »Monstergott« von Caroline Schmitt (Park/Ullstein) erzählt von den Geschwistern Ben und Esther, die in einer evangelikalen Freikirche aufwachsen. Das Buch untersucht die Auswirkungen repressiver Religiosität auf junge Menschen und ihren Weg zur Emanzipation. Je älter die beiden werden, desto mehr Zweifel kommen auf: Esther möchte mehr Verantwortung übernehmen, wird aber als Frau abgewiesen. Ben hadert mit seiner Homosexualität.
  • »Jenseits der See« von Paul Lynch (Klett-Cotta, übersetzt von Eike Schönfeld) ist der 2023 mit dem Booker Prize ausgezeichnete Roman über zwei Männer, Bolivar und Hector, die 14 Monate auf einem sieben Meter langen Boot über den Atlantik treiben. Der irische Autor zeigt, wie Menschen mit existenzieller Bedrohung, Einsamkeit und dem täglichen Kampf ums Überleben umgehen.
  • »Alchemised« von SenLinYu (Forever/Ullstein, übersetzt von Christiane Sipeer, Karen Gerwig, Lisa Kögeböhn und Sybille Uplegger) ist ein überarbeiteter und quasi »anonymisierter« Text einer ursprünglich auf der Fanfiction-Plattform Archive of Our Own veröffentlichten Harry-Potter-Fanfiction mit über 40 Millionen Aufrufen. Die Geschichte wurde für die Buchausgabe komplett überarbeitet und erzählt von der Hauptperson Helena Marino in einer düsteren Fantasy-Welt voller Nekromantie, Krieg und einer komplizierten Liebesgeschichte.

Die Diskussion war teilweise von großer Einigkeit geprägt, besonders bei den ersten beiden Titeln. Kontroverser wurde es bei »Jenseits der See« und vor allem bei »Alchemised«.

Unterschiedliche Meinungen und Schwerpunkte

Hören Sie das vollständige Gespräch im Podcast des literaturcafe.de. Mit der folgenden Tendenz wurde über die vier Bücher diskutiert.

»Nur für Mitglieder« von Thorsten Nagelschmidt

Das autobiografische Buch des Punk-Musikers begeisterte alle vier Diskussionsteilnehmer. Kristoffer Mauch, der den Titel vorgeschlagen hatte, lobte besonders die gelungene Beschreibung des Tourismus-Resorts und die kulturgeschichtlichen Exkurse. Fleur Hummel fand vor allem die authentischen Passagen über Depression berührend, während ihr die »Sopranos«-Abschnitte manchmal zu zäh wurden. Michael Steffel war zunächst skeptisch, doch dann zog ihn das Buch immer mehr in seinen Bann – er hob die Erzählkunst und den gelungenen Wechsel zwischen Cluballtag, Serienkonsum, Kulturgeschichte und Kindheitserinnerungen hervor. Auch Mareike Winter, deutlich jünger als der Autor, konnte sich dennoch gut in das Buch einfühlen und empfiehlt es für alle Altersgruppen.

»Monstergott« von Caroline Schmitt

Auch dieses Buch über zwei Geschwister in einer evangelikalen Freikirche fand breite Zustimmung. Fleur Hummel hob die differenzierte Darstellung zwischen persönlichem Glauben und religiöser Institution hervor und bezeichnete es als Plädoyer für Toleranz und Menschlichkeit. Kristoffer Mauch betonte die Wichtigkeit des Themas gerade im Südwesten und lobte die starke Figur der Esther, die bibelfest mit dem Pastor diskutiere. Michael Steffel erkannte aus eigener Erfahrung im Bekanntenkreis die authentische Beschreibung freikirchlicher Strukturen wieder und verwies auf Tilmann Mosers »Gottesvergiftung« – fand allerdings die Toleranz der Eltern am Ende unglaubwürdig. Mareike Winter hätte sich ein noch ausführlicheres Buch gewünscht, schätzte aber die Auseinandersetzung mit kontroversen Themen wie Homosexualität und Emanzipation.

»Jenseits der See« von Paul Lynch

Bei diesem Roman des ehemaligen Booker-Prize-Gewinners gingen die Meinungen etwas auseinander. Michael Steffel präsentierte das Buch mit einem Plädoyer als »male-friendly content« und kritisierte, dass Verlage den Abenteuerroman für Männer vernachlässigten – Lynch wäre ohne den Booker Prize wohl nie übersetzt worden. Kristoffer Mauch zeigte sich begeistert von der literarischen Qualität und lobte Lynch als Meister, der mit starken Sätzen den Leser zum Innehalten zwinge. Fleur Hummel fand den Protagonisten Bolivar unsympathisch, lobte aber die innere Spannung und die schöne Sprache. Mareike Winter hatte Schwierigkeiten mit dem anspruchsvollen Stil und würde das Buch in ihrer Buchhandlung nicht empfehlen, da es geübte Leser brauche – betonte aber, dass es kein reines Männerbuch sei, sondern universelle Themen behandle.

»Alchemised« von SenLinYu

Das dickste und kontroverseste Buch des Abends polarisierte die Runde. Mareike Winter, die das ursprünglich als Fanfiction veröffentlichte Werk vorstellte, begeisterte sich für die düstere Fantasy-Welt und bezeichnete es als Jahreshighlight. Kristoffer Mauch verglich seine Lektüreerfahrung mit einem Industrial-Techno-Partybesuch: »faszinierend, vielleicht sogar ein bisschen sexy«, aber letztlich nicht sein Genre. Fleur Hummel kritisierte das Buch scharf: Die Vergewaltigungsszene und die toxische Beziehung seien problematisch, die vermeintlich starke Protagonistin werde am Ende doch vom »schwarzen Ritter gerettet« – ein Rückschritt für die Gleichberechtigung. Mareike Winter verteidigte das Buch und betonte, dass beide Figuren unter ihren Umständen litten und es sich um einen Fantasy-Roman mit komplizierter Liebesgeschichte handle, nicht um Dark Romance.

Weihnachtsempfehlungen der Stuttgarter Bücherrunde

Am Ende der Stuttgarter Bücherrunde gab traditionell jeder der Vier eine Buchempfehlung für Weihnachten ab:

  • Kristoffer Mauch empfahl »Eine Spukgeschichte« von Justinus Kerner, erschienen im 8grad Verlag. Der unterschätzte Dichterarzt aus Weinsberg beschreibe in dieser Fallbeschreibung aus dem 19. Jahrhundert die Erscheinungen einer Bauernstochter im mystischen Hohenlohe. Das Buch sei schön gestaltet mit Tuschezeichnungen von Christian Sobeck von der DHBW Ravensburg und lese sich in zwei Stunden. Man erkenne darin klassische Spukelemente, die später in Filmen wie »Der Exorzist« oder »Poltergeist« auftauchten. Das Kernerhaus in Weinsberg sei einen Besuch wert.
  • Fleur Hummel stellte »Das Geschenk« von Gea Schöters vor. Die Autorin, bekannt durch ihren Debütroman »Trophäe« über eine perfide Menschenjagd, greife einen wahren Hintergrund auf: Als Deutschland 2024 ein Einfuhrverbot von Jagdtrophäen geplant habe, habe der botswanische Präsident vorgeschlagen, Deutschland 20.000 Elefanten zu schenken. Schöters spinne dies in ihrer Satire weiter und lasse die Elefanten tatsächlich in Berlin landen, wo sie Chaos verursachten. Das Buch sei laut Süddeutscher Zeitung »ein knackig kleines Gedankenspiel« mit latenten politischen Anspielungen.
  • Michael Steffel empfahl ein Buch von Heinz Strunk. Bei Strunk, den man entweder möge oder nicht möge, gehe es immer um Loser und Menschen am Rand. Steffel liebe Strunk seit 2004 und »Fleisch ist mein Gemüse«. Das empfohlene Buch sei »Kein Geld, kein Glück, kein Sprit« – eine Sammlung von 36 teils sehr kurzen, skurrilen Geschichten. Steffel habe auch dieses Buch als »male-friendly content« bezeichnet und als perfektes Geschenk für Partner, denen man nicht schon wieder Socken schenken möchte.
  • Mareike Winter empfahl »Das Geschenk des Winters« von Mim und Nathalie Ragonde, übersetzt von Anna Butte und erschienen im Herder Verlag. Das wunderschön illustrierte Bilderbuch erzähle die Geschichte eines kleinen Hundes ohne Zuhause, der durch ein Dorf ziehe und von den Menschen weggejagt werde. Der Wind schicke ihn in die Großstadt, wo er zitternd vor Kälte vor einem Haus liege. Der wütende Wind schwinge die Tür auf, und eine ältere Dame finde den Hund. Winter warnte: »Ich bekomme Pippi in die Augen, wenn ich das anschaue, weil die so schön gezeichnet sind.« Eine Empfehlung für alle, die ein kleines Licht in der Dunkelheit brauchen.

Hören Sie den vollständigen Mitschnitt der Stuttgarter Bücherrunde vom 20.11.2024 auf den 75. Stuttgarter Buchwochen im Podcast des literaturcafe.de. Nutzen Sie den Player unten nach dem Beitrag.

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