
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den Georg-Büchner-Preis 2025 an die Schriftstellerin Ursula Krechel, die mit ihrer Romantrilogie über Verfolgung und Exil sowie ihrem vielfältigen Werk »den Verheerungen der deutschen Geschichte und Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur entgegensetzt«.
Der Georg-Büchner-Preis ist die bedeutendste literarische Auszeichnung im deutschsprachigen Raum. Seit 1951 verleiht die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung an herausragende Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die sich um die deutsche Literatur verdient gemacht haben. Der Preis trägt den Namen des Dramatikers und Revolutionärs Georg Büchner (1813-1837), der mit Werken wie »Woyzeck« und »Dantons Tod« die deutsche Literatur nachhaltig prägte. Die Preisverleihung findet am 1. November 2025 im Staatstheater Darmstadt statt.
Mit Ursula Krechel zeichnet die Jury eine Autorin aus, die in ihren Gedichten, Theaterstücken, Hörspielen, Romanen und Essays den Verheerungen der deutschen Geschichte und Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur entgegensetzt. Die 77-jährige Autorin erhält den Preis für ein Lebenswerk, das sich beharrlich mit den verdrängten Geschichten der deutschen Vergangenheit auseinandersetzt und dabei stets nach den Spuren vergessener oder marginalisierter Menschen sucht.
Eine chronische Spurwechslerin zwischen den Gattungen
Ursula Krechel, geboren am 4. Dezember 1947 in Trier, studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität zu Köln und wurde 1971 mit einer Arbeit über den Theaterkritiker Herbert Ihering promoviert. Nach dem Studium arbeitete sie als Dramaturgin an den Städtischen Bühnen Dortmund und engagierte sich ehrenamtlich in der Theaterarbeit mit jugendlichen Untersuchungshäftlingen.
Ihr Debüt gab sie 1974 mit dem Theaterstück »Erika«, 1977 folgte mit »Nach Mainz!« der erste Gedichtband und 1981 ihr erster Roman »Zweite Natur«. Die Unmöglichkeit einer Emanzipation war Thema ihres ersten Bühnenstücks »Erika«, mit dem sie 1974 auf sich aufmerksam machte. Wie sie selbst einmal über sich sagte, arbeitet sie als »chronische Spurwechslerin« in den literarischen Gattungen Lyrik, Epik und Essayistik.
Die große Trilogie über Vertreibung und Verfolgung
Internationale Anerkennung brachte Krechel ihre monumentale Romantrilogie, die das Schicksal von Verfolgten und Vertriebenen in der NS-Zeit nachzeichnet. Ihre aus umfangreichen Recherchen hervorgegangene Romantrilogie »Shanghai fern von wo« (2008), »Landgericht« (2012) und »Geisterbahn« (2018) erweist sich als eine große Erzählung der Vertreibung und Verfolgung von Juden und Sinti.
Der zweite Band »Landgericht« wurde 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Im Mittelpunkt des Romans steht der jüdische Richter Dr. Richard Kornitzer, der 1947 aus dem Exil in Havanna nach Deutschland zu seiner versprengten Familie zurückkehrt »und zerbricht, als er in der Enge Nachkriegsdeutschlands den Kampf um die Wiederherstellung seiner Würde verliert«.
»Ursula Krechel erzählt in ihrem Roman ›Landgericht‹ die Lebensverwicklung des aus dem Exil zurückkehrenden Richters Richard Kornitzer. Er ist vom Glauben an Recht und Rechtsstaatlichkeit durchdrungen und zerbricht, als er in der Enge Nachkriegsdeutschlands den Kampf um die Wiederherstellung seiner Würde verliert.«
Jury-Begründung Deutscher Buchpreis 2012
Reales Vorbild für diese Romanfigur ist der Richter Robert Michaelis. 2017 erschien in Deutschland unter dem Titel »Landgericht. Geschichte einer Familie« eine zweiteilige Fernsehverfilmung mit Ronald Zehrfeld und Johanna Wokalek in den Hauptrollen.
Aktuelle Themen: »Sehr geehrte Frau Ministerin«
Auch in ihrem neuesten Roman »Sehr geehrte Frau Ministerin«, der im Januar 2025 erschien, bleibt Krechel ihren Themen treu. Es ist die Geschichte eines versuchten Femizids, eines Attentats auf eine Frau, erzählt aus der Perspektive von drei Protagonistinnen: einer Lateinlehrerin, einer Verkäuferin und einer Justizministerin.
»Ursula Krechel schreibt in ihrem hoch politischen und stilistisch herausragenden Roman eine Kulturgeschichte aller Frauen – von einer römischen Kaisermutter zu einer Studienrätin, von einer Verkäuferin in einem kleinen Kräuterimperium zu einer Ministerin. Es ist die Geschichte ihres Widerstands gegen die Gewalt, die ihnen physisch und psychisch zugemutet wird«, heißt es auf der Verlagswebsite.
Auszeichnungen und Würdigungen
Krechels Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Zum Beispiel erhielt sie bereits den Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis (1997), den Düsseldorfer Literaturpreis (2009), den Deutsche Buchpreis (2012, für »Landgericht«), den Lyrikpreis Orphil (2012) oder das Bundesverdienstkreuz am Bande (2020). 2009 erhielt sie den Joseph-Breitbach-Preis.
Krechel ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (seit 2012), der Berliner Akademie der Künste (seit 2017) und war Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz von 2015 bis 2021. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit lehrte sie als Gastprofessorin unter anderem am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, an der Universität der Künste in Berlin und war mehrfach Writer-in-Residence im In- und Ausland.
Die Geschichte des Georg-Büchner-Preises
Der Georg-Büchner-Preis wurde 1923, während der Weimarer Republik, vom Landtag des Volksstaates Hessen in Erinnerung an den Schriftsteller Georg Büchner gestiftet und an Künstler vergeben, die aus Georg Büchners Heimat Hessen stammten oder geistig mit dem Land verbunden waren. Zwischen 1933 und 1944 war der Georg-Büchner-Preis durch einen Kulturpreis der Stadt Darmstadt ersetzt.
1951 erfolgte die Umwandlung des Preises in einen allgemeinen Literaturpreis, der seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben wird. Erster Preisträger war Gottfried Benn. Die Dotierung, die 1951 noch 3.000 DM betragen hatte, wurde im Laufe der Jahre regelmäßig erhöht. Von 2003 bis 2010 betrug sie 40.000, ab 2011 dann 50.000 Euro.
Bedeutende Preisträger in der Geschichte
Der Preis wurde bislang 74 Mal vergeben (Stand 2025), darunter 13 Mal an eine Frau. Zu den herausragenden Preisträgern gehören:
Lyrik: Gottfried Benn, Günter Eich, Paul Celan und Ingeborg Bachmann
Dramatik: Thomas Bernhard, Peter Handke, Heiner Müller und Elfriede Jelinek
Epik: Günter Grass (1965), bekannt für sein Werk »Die Blechtrommel«, Heinrich Böll (1967), der auch den Nobelpreis für Literatur erhielt, und Elfriede Jelinek (1998), eine weitere Nobelpreisträgerin
Weitere bedeutende Namen sind Max Frisch (1958), Wolfgang Koeppen (1962), Hans Magnus Enzensberger (1963) und in jüngerer Zeit Rainald Goetz (2015). 2024 erhielt Oswald Egger den Preis.
Krechels literarische Mission
»Ich bin immer daran interessiert gewesen, das Verborgene oder das dramatisch Weggedrückte in meine Arbeit aufzunehmen«, sagt die Preisträgerin. Die Themen Flucht, Exil, Gewalt, Feminismus seien von Anfang an in dem Werk der Autorin präsent.
Das Thema der Selbstbehauptung, Wiederentdeckung und Fortentwicklung weiblicher Autorschaft zieht sich als roter Faden durch ihr gesamtes Schaffen. Dies gilt insbesondere für ihre Essayistik, in der sie die deutschsprachige Literatur mit der internationalen ästhetischen Moderne ins Gespräch bringt.
»Ursula Krechels Werk regt Leserinnen und Leser an, die Spuren der Vergangenheit im Alltag der Gegenwart aufzufinden und das Hier und Jetzt der deutschen Gesellschaft nicht hinzunehmen, wie es ist«, so die Jury-Begründung.
Dabei sei die Lyrik der Urgrund ihres Schreibens, der sich in alle möglichen Richtungen entwickelt habe. »Das Grundgefühl, das ich im Schreiben habe, ist der Wunsch, immer wieder zur Lyrik zurückzukehren«, erklärt Krechel.
Eine würdige Preisträgerin
Hessens Kulturminister Timo Gremmels (SPD) sieht in der neuen Büchner-Preisträgerin Ursula Krechel eine Ausnahmeschriftstellerin. »Ursula Krechel ist eine der bedeutendsten Autorinnen Deutschlands und prägt mit ihrer herausragenden Lyrik und Prosa die deutschsprachige Gegenwartsliteratur«. Krechel schreibe pointiert und scharf und präsentiere in ihren Texten ihre Analysen unserer Gesellschaft, oft mit Fokus auf verdrängten Sujets wie Exil, Gewalt, Radikalisierung.
Mit Ursula Krechel wird eine Autorin geehrt, die konsequent gegen das Vergessen anschreibt und dabei immer wieder neue Formen findet, um verdrängte Geschichten ins Bewusstsein zu holen. Hat sie selbst mit dieser Auszeichnung gerechnet? »Nein, ich bin nicht eine Person, die rechnet in diesen Fragen«, antwortet sie bescheiden. Der Georg-Büchner-Preis 2025 würdigt ein Werk, das den Mut hat, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und dabei stets die menschliche Würde im Blick behält.