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Schulbuchpädagogik: Wie man ein Gedicht verhunzt

Ausschnitt aus Trainingsheft Deutschbuch 1Wer bisher in der Schule noch nicht gelernt hat, wie man ein Gedicht verhunzt, dem hilft jetzt der Cornelsen-Verlag in seinem »Deutschbuch 1 – Trainingsheft für Klassenarbeiten und Vergleichsarbeiten« gewaltig auf die Sprünge: geopfert wird dabei Christian Morgenstern:

Gruselett
Der Flügelflagel gaustert
durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert,
und grausig gutzt der Goltz.

Damit soll der Schüler einer Unterstufe sich jetzt selbständig beschäftigen. Unter der Überschrift »Ein Gedicht verstehen« wird ihm Staunens- und Wissenswertes mitgeteilt, nämlich: Auch andere Autoren haben sich mit Unheimlichem beschäftigt. Hier siehst du eine Gedicht von Christian Morgenstern. Neben diesem Text sieht man ein Bild – das Gedicht sieht man nicht hier, sondern darunter, aber vor allem nutzt das Sehen nichts, denn man muss es lesen. Und danach folgen pädagogisch ausgefeilte Aufgaben:

a) Unterstreiche die sich reimenden Wörter jeweils farbig.

Sollte jetzt ein Schüler Flügelflagel oder Wiruwaru als Reim erkennen, wird er im Lösungsheft eines Besseren belehrt: Gemeint sind ausnahmslos Endreime, verlangt wurden die nie!

b) Verbinde die Verse, die sich reimen, mit Bögen neben dem Gedicht.

Warum nicht gleich? Und warum überhaupt? Warum soll ein Schüler ein Gedicht lesen und als erstes Reime sammeln? Kann man ohne Reim-Analyse mit dem Gedicht denn gar nichts anfangen? In der nächsten Aufgabe darf der Schüler dann folgerichtig ein Kästchen ankreuzen, ob Kreuz-, Paar- oder umarmender Reim.
Und da die PISA-geschädigten Kinder nach all dem geistigen Aufwand Erholung brauchen, kommt jetzt eine didaktische Aufklärung:

d) Manche Wörter in seinem »Gruselett« hat Christian Morgenstern erfunden.

Da staunen die lieben Kleinen aber! Könnte man die nicht durchstreichen, z. B. dieses durchs … Aber ganz erstaunlich: Trotzdem spürt man beim Lesen eine ganz bestimmte Stimmung. Stimmt! Vater schimpft, weil der Schüler beim Lesen so laut lachen musste. Erkläre, weshalb das Gedicht unheimlich wirkt. Irrtum: Ein schimpfender Vater ist unheimlich, aber das Gedicht? Der Schüler merkt, wie zäh und schwer Gymnasium ist: Seine Stimmung ist gar nicht gefragt, die wird ihm vorgeschrieben durch studierte literarische Analphabeten, die dem irritiert in der Lösung nachschauenden Schüler ins Stammbuch schreiben: Bereits die Überschrift weist darauf hin, dass uns das Gedicht »gruseln« soll, ebenso wie das Adjektiv »grausig«. Merket also: Die Überschrift sagt uns, was uns das Gedicht antun soll.

Und da das Maß bei Weitem noch nicht voll ist – schließlich soll das Gedicht ja komplett verhunzt werden – steht unter dem Bild noch ein farblich hervorgehobener TIPP: Lies das Gedicht laut und betont, denn auch der Klang der Wörter trägt viel zu seiner Wirkung bei. Wieso ein Klang zu seiner Wirkung beiträgt statt zu der des Gedichts bleibt ein unlösbares Rätsel dieses förchterlichen Dummfugs: Seit wann wird Grusel durch Laustärke und Betonung erzeugt? Wie wäre es mit Flüstern? Wie wäre es (AUFGABE), einen Vortrag zu gestalten? Aber nein, Vater ist eh schon sauer, und sich selbst ein Gedicht vorzutragen macht keinen Spaß, dann lieber doch gleich laut und mit der Betonung an der richtigen Stelle, so machen Gedichte Freude und der Klang trägt zu seiner Wirkung bei: Dummdadumm / da dummdadummda dummda / da dummdadummdadumm / da dummda dummda dummda / da dummda dumm da dumm.

Markus Beck; Matthias Lilje; Rut Lilje; Martina Tuda; Anke Weber; Simone Woitas: Deutschbuch Gymnasium - Baden-Württemberg - Ausgabe 2003 - Band 1: 5. Schuljahr: Klassenarbeitstrainer mit Lösungen. Taschenbuch. 2008. Cornelsen Verlag. ISBN/EAN: 9783061000240

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16 Kommentare

  1. Aufregung schön und gut, aber das Gedicht selbst hätte mir in meiner Schulzeit schon jeden Spaß geraubt, sich damit zu beschäftigen. Toll, es ist von Morgenstern, aber ist das ein Garant für ein “gutes” Gedicht? Wahrscheinlich bin ich der Beziehung einfach nur ein Banause …

  2. Recht hat der Autor, oder ist eine Autorin? Die Cornelsen-Bücher sind überhaupt schluderig und mit einer derartigen didaktischen Arroganz gemacht, dass es einem schlecht werden kann. Aber Schurf ist unangreifbar: Es gibt eine Achse zwischen Cornelsen und den den Aufgabenstellungen zentraler Prüfungen in NRW (Abitur!), auf der Herr Schurf sitzt und munter in die Zukunft blickt…
    Eine Bemerkung ist allerdings unberechtigt: “Wieso ein Klang zu seiner Wirkung beiträgt statt zu der des Gedichts…” – “seiner” bezieht sich auf “Gedicht” im vorherigen Satz, ist also grammatisch korrekt.

  3. Also mir hat das Gedicht damals Spaß gemacht. Und noch heute lache ich laut auf, wenn das heute-journal beginnt und Klaus Kleber und Gundula Gaus angekündigt werden. Ich MUSS dann immer kontern: und grausig gutzt der Golz! 😉

  4. Wir hatten das Gedicht in der dritten oder vierten Klasse in der Grundschule. Ich fand es klasse und musste gerade daran denken, als ich “The Dong with a luminous nose” von Edward Lear gelesen habe. Kann es heute (etwa 22 Jahre später) noch auswendig, obwohl ich es seit damals gar nicht mehr gelesen habe. Wir hatten aber auch keine so bescheuerte Aufgabenstellung dazu. Wir mussten Wörter finden, an welche die Neologismen Morgensterns erinnerten. So nach dem Motto Wirowaruwolz…klingt wie Wirrwarr und Holz, also vielleicht Unterholz, Gestrüpp… Hat mir damals Spaß gemacht und trug mit dazu bei, dass ich immer Spaß an Sprache hatte. Vielleicht wäre das ja eine nette Aufgabe für künftige Cornelsen-Bücher…man darf die einfach nicht überschätzen, die werden von Pädagogen gemacht, das sind ehemalige Schüle! 😉

  5. Mal langsam! Ein Gedicht an sich lässt sich durch eine wie auch immer geartete Herangehensweise m. E. nicht “verhunzen”. Hier scheinen mir viele Haare in der kritisierten didaktischen Suppe an denselben herbeigezogen. Gegenvorschläge wären stattdessen wünschenswert gewesen. Von dem Verlag mag man halten, was man will (es scheint eine gewisse Voreingenommenheit den Beitrag zu färben). Für Kinder der Unterstufe erschließt sich ein Gedicht zuerst und am direktesten über (End-)reime. Die Entmythologisierung “gereimter Lyrik” durch “abstrakte” Gedichte kommt noch früh genug. Die “Nonsens”-Worte Morgensterns schaffen Raum für kreative Assoziationen – hier darf der Grusel identifiziert werden. Und der Vortrag ist elementar für die Interpretation und das Verständnis, auch das eigene, eines Werkes. Vielleicht sollte Verfasser*in einfach mal wieder laut lesen.

    • Sie haben nicht zufällig beim Schurf mitgeschrieben? Der arme Morgenstern würde sich im Grabe rumdrehen. Sich gruseln über die Gruselpädagogen. Darf ich mich einfach an ihm freuen? OHNE irgendwelche Überinterpretation und zerpflückende Analysen?

  6. Schüler in dem Alter lieben Fantasie-Wörter. Morgensterns Gruselett ist immer noch und immer wieder inspirierend… und sie finden es richtig cool, dass man das Gedicht versteht, ohne die Wörter zu kennen. Wenn Schüler langsam fit gemacht werden, diesem Geheimnis von Klang und Form auf die Schliche zu kommen, hat das mit “Verhunzen” nichts zu tun.
    Problematisch ist aber, dass Eltern mit Hilfe von solchen Trainern zu genervten Hilfslehrern werden. Das fördert die Freude an Literatur vermutlich nicht besonders.

    • Ebeneben, liebe Emily, weil die Kiddies es einfach mals so verstehen und Freude haben, muss niemand noch irgendwie wen “fitmachen” oder “ein Geheimnis lüften”. Einfach mal Senfdose zulassen.

  7. Es gab, gibt und wird immer Lehrer geben und Schulllehr’r, deren pädagogische Klassifizierung die Menge der “l”‘s festlegt, und zwar orientiert am arabischzahligen Notensystem. So in etwa wie : “Setzen ! Schullllllllehr’r !!!”

  8. Ich lasse SuS in Klasse 5 zu diesem Gedicht immer frei Bedeutungen assoziieren, thematisiere dann, warum wir trotz der vielen Neologismen (“merkwürdigen Wörtern” in Klasse 5) einen Zusammenhang verstehen (man kann Wortarten erkennen => etwas Wiederholung schadet nie; ist ja schließlich immer noch Deutschunterricht) und dann dürfen die SuS selbst eine ähnliche Strophe schreiben. Die trägt dann auch jede/r hinterher vor. – Daran haben alle immer eine Menge Spaß und lernen nebenbei etwas über Sprache. – Ein Bild würde ich nie dazu zeigen, weil dieses ja beim Lesen bzw. Nachdenken über den Text im Kopf entstehen soll.
    Ich verstehe ja, dass Schulbuchverlage versuchen, Texte durch Illustrationen appetitlicher zu machen; leider nehmen diese häufig viel zu viel vorweg oder aber – deutlich nerviger – zeigen Dinge, die im Text gar nicht erwähnt werden bzw. interpretieren den Text bereits in eine vorgegebene Richtung. (“Aber das sieht man doch da im Bild…” “Und wo, bitte sehr, steht das im Text?”)
    Weil mir der Flügelflagel selbst so viel Spaß macht, schreibe ich dann auch immer eine Strophe dazu, während die SuS nachdenken:

    Der graue Gandel glintelt,
    Durch Ratt und Rott und Gritt,
    Ein kleines Mintchen printelt,
    Grahzt friedefrühde mit.

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