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Schreibzeug: Die 11 besten Texte eines großen Sommers

Die folgende Geschichte zählt zu den 11 Gewinnertexten zum Thema ›Der Sommer war sehr groß‹, die in Folge 96 des Schreibzeug-Podcasts gekürt, besprochen und vorgelesen wurden. Die Podcast-Folge kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. In Folge 95 wurde allgemein über den Wettbewerb und die Einsendungen gesprochen. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Texten geblättert werden.

Doris

von Vendulka Cejchan

Der Sommer war sehr groß. Ich war es nicht. Ich war nicht nur kleiner als alle anderen, meine Mutter war auch geschiedener und mein Vater nichtexistenter, als es sich im katholischen Rheinland 1971 gehörte. Im Februar waren meine Mutter und ich aus der Tschechoslowakei gekommen. Meine Mutter rang seitdem in diversen Kursen die deutsche Sprache nieder, und auch meine Deutschkenntnisse waren rudimentär. Bis ich in dem Sommer Doris traf. Meine Mutter hatte mich in den Garten hinter unserem Mietshaus gescheucht, der träge in der Mittagshitze vor sich hin welkte, als eine Mädchenstimme aus der hintersten Ecke rief: »He, komm mal rüber.« Und so stand ich staunend vor Doris, die mich mit unstet rotierenden Augen ansah. »Bin blind«, sagte sie, »Meine Augen machen, was sie wollen. Nur nicht sehen«. Sie war ungefähr 14, hatte unfassbar blonde Haare, saß auf dem Boden im Schatten und hielt mir ein Glas Limo entgegen, an dessen Wänden das Kondenswasser heruntertropfte. Sie hatte ein dickes, völlig leeres Buch vor sich aufgeschlagen. »Ich kann mit den Fingern lesen.« Haha, da war es wieder: eine Deutsche sagt irgendetwas Sinnloses. Aber dann zeigte mir Doris die Hubbel auf dem Papier und wie ihre Finger sie erspüren konnten. Und überhaupt zeigte sie mir in den kommenden Wochen dieses nicht enden wollenden Sommers vieles: wie man Zöpfe flicht und Schnürsenkel bindet und wie man mit dem Alleinsein klarkommt. Sie brachte mir ziemlich gutes Deutsch bei und dass das beste Eis bei Hitze Capri ist und dass Freundschaft weder Augen noch Sprache braucht. Dafür beschrieb ich ihr die Wolken und die Sommersprossen in ihrem Gesicht und den grell grünen Punkt, zu dem die Sonne wird, wenn man lange hinein geguckt hat und dann die Augen zukneift.

Ende August wurde ich eingeschult, der Herbst kam und Doris zog weg. Bis heute frage ich mich, woher sie bei unserer ersten Begegnung überhaupt wusste, dass ich in diesem Garten stand, und hoffe, sie lebt irgendwo, wo ihre Augen schweifen können.

© by Vendulka Cejchan. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – nicht gestattet.

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5 Kommentare

  1. Marlene Wasker, ein schwingender bewegender Text. Der mit besonderen Sprachbildern spielt und im Kopf Bilder entstehn lässt.
    Es roch nach Sandwegen, die in der Sonne rösteten, eine bessere Somerbeschreibung habe ich selten gelesen und gesehen.
    Glaubensgegerbte Bewohner – ebenfalls beeindruckend auf den Punkt gebracht.
    Das Drama der Geschichte kommt ganz beiläufig daher, Kopfkino.
    Danke

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