0
StartseiteLiterarisches LebenSchreibzeug: Die 11 besten Texte eines großen Sommers

Schreibzeug: Die 11 besten Texte eines großen Sommers

Die folgende Geschichte zählt zu den 11 Gewinnertexten zum Thema ›Der Sommer war sehr groß‹, die in Folge 96 des Schreibzeug-Podcasts gekürt, besprochen und vorgelesen wurden. Die Podcast-Folge kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. In Folge 95 wurde allgemein über den Wettbewerb und die Einsendungen gesprochen. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Texten geblättert werden.

Reflektion

von Simone Embacher

Der Sommer war sehr groß. Größer als das Ahornblatt, das über ihrem Kopf schwebte. Ein Regentropfen löste sich vom gezackten Rand. Fiel auf ihre Stirn. Einem einzelnen Finger gleich, bewegte er sich warm über ihre Schläfe.

Das Aroma der zarten Kräuter und Gräser, die sie unter ihren Körpern niederdrückten, drang tief in ihre Haut ein. Sein Gesicht, ihrem so nah, dass sie Mühe hatte, ihn klar zu sehen. Sie schloss die Lider und spürte wie er über ihre Wange strich. Seine Bewegungen waren so weich, wie auch ihr Atem langsam wieder weicher wurde. Lange lagen sie schon reglos nebeneinander, sodass eine Zikade ganz nah und doch unsichtbar, begann, ihren Lockruf zu zirpen. Der warme Wind, getränkt mit dem Duft der Pinienwälder, trug ihnen in Fragmenten eine Melodie zu. Hinter den Hügeln, mit wildem Wacholder und Rosmarin bewachsen, rollten in rhythmischer Unregelmäßigkeit die Wellen über den Strand. Salz klebte noch auf ihrer Haut, als sie über ihnen ein leises Donnergrollen hörte.

Sie blinzelte die Regentropfen von ihren Wimpern. Der Blick wurde klarer. Was war das? Wurden sie beobachtet? Da stand doch jemand unterm Baum. Eine Frau. Alt war sie. Weiße dünne Zöpfe fielen über ihre spitzen Schultern. Ein Leinenhemdchen klebte an dem kleinen Körper. Tiefe Falten durchzogen ihr Gesicht. Unbewegt standen sie sich gegenüber – mit nackten Füßen im klammen Gras. Ein vorsichtiges Lächeln und die Alte lächelte ebenso zurück. Plötzlich erschien hinter ihr ein Auto. Sie beobachtete, wie ein junger Mann ausstieg und sich der Alten langsam näherte. Nah bei ihr, blieb er stehen. Legte eine Hand auf ihren Rücken – und im selben Moment, als sie die wärmende Handfläche auf ihrem eigenen Körper spürte, hörte sie, wie eine seltsam vertraute Stimme flüsterte: »Mama, da bist du ja. Komm, ich bring dich wieder heim.«

Als der Wagen mit den beiden losfuhr, reflektierten sich einzig die roten Rücklichter im Fenster des Gewürzladens unterm Ahorn, der gerade sein erstes Blatt verlor.

© by Simone Embacher. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – nicht gestattet.

Weitere Beiträge zum Thema

5 Kommentare

  1. Marlene Wasker, ein schwingender bewegender Text. Der mit besonderen Sprachbildern spielt und im Kopf Bilder entstehn lässt.
    Es roch nach Sandwegen, die in der Sonne rösteten, eine bessere Somerbeschreibung habe ich selten gelesen und gesehen.
    Glaubensgegerbte Bewohner – ebenfalls beeindruckend auf den Punkt gebracht.
    Das Drama der Geschichte kommt ganz beiläufig daher, Kopfkino.
    Danke

Schreiben Sie einen Kommentar

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein.
Bitte geben Sie Ihren Namen ein

E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.