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StartseiteLiterarisches LebenSchreibzeug: Die 11 besten Texte eines großen Sommers

Schreibzeug: Die 11 besten Texte eines großen Sommers

Die folgende Geschichte zählt zu den 11 Gewinnertexten zum Thema ›Der Sommer war sehr groß‹, die in Folge 96 des Schreibzeug-Podcasts gekürt, besprochen und vorgelesen wurden. Die Podcast-Folge kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. In Folge 95 wurde allgemein über den Wettbewerb und die Einsendungen gesprochen. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Texten geblättert werden.

Sommer holen

von Matthias Krahe

Der Sommer war sehr groß. Zwei Meter fünf, schätzte Harm, also Übermaß. Sie müssten das Fußende verlängern und die Bahre im Fahrstuhl schräg stellen. Das Gewicht war kein Problem, kaum siebzig Kilo.

Ausgerechnet der dürre Sommer, dachte Harm auf dem Weg zum Wagen. Der Bademeister, der ihn und Maja im Freibad erwischt hatte – in der Morgendämmerung, nach ihrer verschlungenen Nacht auf der feuchten Wiese.

»Melde uns doch«, hatte Maja gefaucht, »die Kinder bringt sowieso der Storch, guck dich nur an.«

Harm hatte sich vor Lachen im Gras gewälzt.

Wenige Tage später war Maja fort. In ein anderes Heim, munkelte man. Im Herbst hieß es, sie habe in eine Klinik gemusst, aber nicht einmal ihr Bruder Peter wusste, was los war, und das Jugendamt hielt dicht. Maja blieb verschwunden.

»Bleiben wir trotzdem Freunde?«, hatte Peter gefragt.

»Klar«, hatte Harm geantwortet, »du und ich. Morgen zeige ich dir, wie man eine Arschbombe macht«, und Peter, der zwei Jahre älter war und in den Werkstätten Kerzen zog, hatte voller Vorfreude gegluckst.

Jetzt saß Peter angeschnallt im schwarzen Anzug auf dem Beifahrersitz des Bestattungswagens, fächelte sich mit der Schirmmütze Luft zu und biss in ein Schinkenbrötchen.

»Viel zu heiß«, stöhnte er.

»Es ist Sommer«, sagte Harm.

»Weiß ich doch.«

»Bademeister Sommer.«

Peter riss die Arme hoch: »Der Storch? Beste Arschbombe meines Lebens!«

Brötchenkrümel platzten gegen die Windschutzscheibe.

Harm legte die Hände aufs Lenkrad und sah auf den braunen Rasen vor dem Haus.

»Hast du eigentlich mal«, fragte er nach einer Weile, »was von Maja gehört? Zehn Jahre … hat sie dich nie angerufen?«

»Nö.«

»Kein Brief oder so?«

»Sehen uns ja. Wenn ich Geburtstag hab, … wenn sie hat …«, Peter zählte langsam mit den Fingern, »und wenn Lisa hat. Lisa kommt jetzt schon aufs Güm.«

Vor Harms Augen flimmerten die Krümel. Seine Nase brannte, und weit entfernt hörte er kräftiges Kauen.

Lange sagte er nichts, bevor er eine Hand auf Peters Schulter legte: »Komm, es ist Zeit. Lass uns Sommer holen.«

© by Matthias Krahe. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – nicht gestattet.

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5 Kommentare

  1. Marlene Wasker, ein schwingender bewegender Text. Der mit besonderen Sprachbildern spielt und im Kopf Bilder entstehn lässt.
    Es roch nach Sandwegen, die in der Sonne rösteten, eine bessere Somerbeschreibung habe ich selten gelesen und gesehen.
    Glaubensgegerbte Bewohner – ebenfalls beeindruckend auf den Punkt gebracht.
    Das Drama der Geschichte kommt ganz beiläufig daher, Kopfkino.
    Danke

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