Die folgende Geschichte zählt zu den 11 Gewinnertexten zum Thema ›Der Sommer war sehr groß‹, die in Folge 96 des Schreibzeug-Podcasts gekürt, besprochen und vorgelesen wurden. Die Podcast-Folge kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. In Folge 95 wurde allgemein über den Wettbewerb und die Einsendungen gesprochen. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Texten geblättert werden.
Sommer
von Judith Ludwig
Der Sommer war sehr groß. Selbst wenn Ida sich auf ihren Stuhl stellte, reichte es nicht. Sie schaute dann genau auf seinen Bauch.
»So kann ich dir keine Medaille überreichen«, sagte sie. Die große Übergabe, die eine Überraschung für Sommer sein sollte, wollte gut einstudiert sein.
Geduldig stand Sommer in Idas Zimmer. Seine feinen, weißen Haare leuchteten in der Sonne. Sie bewegten sich ganz leicht im Wind, der aus dem Hausflur hereinkam. Zusammen mit Billie Holiday. ›Ich werde dich sehen‹. Alle Wohnungstüren im Haus standen offen. Die Hitze der letzten Tage wich. Man konnte wieder atmen. Alles war leicht.
»Wir finden schon was«, Sommer streichelte Ida über den Kopf. Sie liebte den weichen Stoff seines Ärmels, der über ihr Gesicht streifte. Sie schloss die Augen. Dann umarmte sie ihn, lange und fest. Das roch nach frisch gemähtem Gras. ›In jedem hübschen Sommertag‹.
Mit ihm war sie sicher. Sie konnte immer die Augen schließen. Den einzigen drücken, dessen Umarmung furchtloser war als ihre.
Ohne Sommer, alles leer. Das Wohnzimmer, der Flur, das Bad mit Mama drin, das Kinderzimmer nebenan.
Ida erinnert sich. Mama sagte »Er kommt nicht mehr«. Sie an der Tür, vor der kein Sommer. Mama im Bad. Der Hausflur leer. Sie wohl wieder schneller als er, eine Minute vor Kuchenzeit. Mama das Wasser noch an. Das Rauschen verschluckte die Hälfte. »Was?« Ida zum Bad. »Er kommt nicht mehr.« Wasserhahn aus.
Da war es. Das eine Wort, das fehlte. Nicht »Er kommt heute nicht mehr«. Und das eine Wort zu viel. Nicht »Er kommt nicht«.
Es dauerte kurz, dann das Rauschen im Kopf. Zurück zur Tür. Zurück zum Bad. Der Blick zu Mama. Zurück in den Flur. Zurück in ihr Zimmer. Die Luft im Hals. Sie war wieder sechs. Sie stieg auf den Stuhl. Was kam nochmal dann?
Dann kam der Wind ins Zimmer. Dann Billie Holiday, durch die offene Tür. ›Ich werde dich finden, in der Morgensonne‹. Dann kam das Brennen in den Augen. Und die Medaille, fest in der Hand.
© by Judith Ludwig. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – nicht gestattet.


Sehr schöner Text! Unterläuft das Erwartbare, des vorgegebenen Titels. Hat mir sehr gefallen.
Mein Lob galt dem Text „Sommer holen“ von Matthias Krahe. Für seinen Witz und seinen Blick und seine Sprache!
Ein wirklich berührender Text!
…die Geschichte Glückssommer!👑
Marlene Wasker, ein schwingender bewegender Text. Der mit besonderen Sprachbildern spielt und im Kopf Bilder entstehn lässt.
Es roch nach Sandwegen, die in der Sonne rösteten, eine bessere Somerbeschreibung habe ich selten gelesen und gesehen.
Glaubensgegerbte Bewohner – ebenfalls beeindruckend auf den Punkt gebracht.
Das Drama der Geschichte kommt ganz beiläufig daher, Kopfkino.
Danke