Die folgende Geschichte zählt zu den 11 Gewinnertexten zum Thema ›Der Sommer war sehr groß‹, die in Folge 96 des Schreibzeug-Podcasts gekürt, besprochen und vorgelesen wurden. Die Podcast-Folge kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. In Folge 95 wurde allgemein über den Wettbewerb und die Einsendungen gesprochen. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Texten geblättert werden.
Ein Gefühl wie laues Glück
von Marlene Waske
Der Sommer war sehr groß. Er zermalmte Juli unter sich.
Juli ließ die Füße vom Steg ins Wasser baumeln, dessen Oberfläche nach den dürren Augusttagen an den grünen Glibber in Plastedosen erinnerte, dessen Schmatzen und Furzen nach der Wende jedes Kind der Thälmann-Schule zum Schreien komisch gefunden hatte. Die Erinnerung schimmerte dunkel in ihr, wie der Grund des Sees zu ihren Füßen. Ein einzelnes Blatt segelte hinab und trieb lustlos auf dem Wasser. Es hatte die Form des Muttermals an Andis Arm. Der Gedanke an ihn ließ sie frösteln, wie die Brise, die zwar noch nach Kiefernharz und Seewasser roch, nach Sandwegen, die in der Sonne rösteten; die den Herbst aber schon um ihre Schultern hauchte.
Sie zog Andis Shirt enger um sich und roch: golden, schillernd, teuer; wie alles an ihm. Es hatte gut getan mit ihm essen zu gehen, ihn vom Investmentbanking reden zu hören. Einer Welt, die nie Platz in Julis Farben gefunden hatte, in Lehm und Perspektivstudien, in den Strichen und Pinselschwüngen, in denen sie lebte.
Dann: Schwanger.
Andi: Lass das doch mit den Pinseleien. Du brauchst eh nicht arbeiten.
Acht Stunden später hatte sie die Fahrertür seines SUVs zu ihrer Vergangenheit aufgestoßen: Klein Seehig. Besser: »Klein-Seh-ich-nicht«. Ein Gefühl wie laues Glück, als begegnete sie nach sehr langer Zeit einem Freund, den sie liebgewonnen, aber aus den Augen verloren hatte und der, wie der Sommer selbst, alt geworden war. Eine Hand voll Bauernhäuser um den Anger gewürfelt, eine Feldsteinkirche gegenüber dem Pfarrhaus, dessen glaubensgegerbter Bewohner die warmen aber schon zu langen Sonnenstrahlen genoss, während er zur Kirche schlurfte. Der Anger zerfiel in einen Pfad, kaum breiter als der vergessene Kahn am Steg, und zwängte sich durch die Erlen am Ufer.
Das Knarzen eines Fuhrwerks wurde von Blättern gedämpft, die begannen ihr Grün gegen ein fahles Gelb einzutauschen. Das zerfurchte Gesicht am einen Ende des Zügels kannte Juli nicht. »Kann ich s’e wat helfen, junge Frau?«
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Sehr schöner Text! Unterläuft das Erwartbare, des vorgegebenen Titels. Hat mir sehr gefallen.
Mein Lob galt dem Text „Sommer holen“ von Matthias Krahe. Für seinen Witz und seinen Blick und seine Sprache!
Ein wirklich berührender Text!
…die Geschichte Glückssommer!👑
Marlene Wasker, ein schwingender bewegender Text. Der mit besonderen Sprachbildern spielt und im Kopf Bilder entstehn lässt.
Es roch nach Sandwegen, die in der Sonne rösteten, eine bessere Somerbeschreibung habe ich selten gelesen und gesehen.
Glaubensgegerbte Bewohner – ebenfalls beeindruckend auf den Punkt gebracht.
Das Drama der Geschichte kommt ganz beiläufig daher, Kopfkino.
Danke