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StartseiteLiterarisches LebenSchreibzeug: Die 11 besten Texte eines großen Sommers

Schreibzeug: Die 11 besten Texte eines großen Sommers

Die folgende Geschichte zählt zu den 11 Gewinnertexten zum Thema ›Der Sommer war sehr groß‹, die in Folge 96 des Schreibzeug-Podcasts gekürt, besprochen und vorgelesen wurden. Die Podcast-Folge kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. In Folge 95 wurde allgemein über den Wettbewerb und die Einsendungen gesprochen. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Texten geblättert werden.

Besuch

von Regine Beeg Hauri

Der Sommer war sehr groß. Er stürzte über steile Hänge ins Tal, schob sich in die engen Räume der Ferienwohnung und machte meiner Mutter Angst. Von den fallenden Linien wurde ihr schwindlig. Von dem Licht, das das Haus am Morgen schlagartig traf, hatte sie eine schmerzende Augenentzündung. Der Föhn schlug auf den Kreislauf. Sie überprüfte ihren Puls, und, zu der Bergkulisse gewandt, entschuldigte sie das piepsende Geräusch. Wir würden also keinen Ausflug machen, nicht dem Tal entfliehen und in den kleinen Bergbahnen noch höher hinauf fahren. Was hältst Du davon, dass ich nun hier lebe, Mutter? Na, wenn es dir gefällt, sagte sie und faltete das Messgerät zurück in die Schatulle. Ich wusste, dass auf den Bergwegen die Schilder auf japanisch geschrieben standen und es hätte sich bestätigt: Mein neues Zuhause, fremd und weit und unverständlich. Meine Mutter kannte bereits den Supermarkt am Ort. Dort war es nicht teurer als bei ihr zu Hause. An der Theke mit Selbstbedienung hatte sie Erdbeerkuchen genommen, preiswert, aber unnötig. Später aß sie mit Appetit Rösti mit Schinken, alles schwamm in einem gelben See aus Butter. In dem Restaurant mit »best-view-in-town« waren die Portionen üppig, man konnte schauen und schlemmen. Das ist mein Paradies, Mutter, was hältst du davon? Na, du bist doch zufrieden, sagte sie. Was, wenn man hier auf den Tod wartet, kam es mir in den Sinn, sprachlos warten angesichts der hellen, majestätischen Berge. Meine Mutter war aufgeregt, sie wollte nicht zu meinem Wohnort fahren, nur eine kurze Autofahrt entfernt, sie drängte zurück in die Sicherheit ihrer Ferienwohnung. Sie würde sich, während ich einen kurzen Spaziergang machte, in dem Hotelkomplex verirren und ihr Apartment nicht mehr finden. Vergebens klopfte ich später an ihre Tür, überzeugt, dass sie dort drinnen leblos am Boden lag. Dann also hier, dachte ich, dann muss es hier und an diesem Sommertag passieren, und ich eilte hinunter, um an der Rezeption einen Ersatzschlüssel zu holen.

© by Regine Beeg Hauri. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – nicht gestattet.

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5 Kommentare

  1. Marlene Wasker, ein schwingender bewegender Text. Der mit besonderen Sprachbildern spielt und im Kopf Bilder entstehn lässt.
    Es roch nach Sandwegen, die in der Sonne rösteten, eine bessere Somerbeschreibung habe ich selten gelesen und gesehen.
    Glaubensgegerbte Bewohner – ebenfalls beeindruckend auf den Punkt gebracht.
    Das Drama der Geschichte kommt ganz beiläufig daher, Kopfkino.
    Danke

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