Das Stuttgarter Staatstheater macht sich über Henrik Ibsen lustig. Mit Edgar Selge in der Titelrolle hat Christopher Rüping im Schauspielhaus den »Peer Gynt« inszeniert. Dass man dabei Ibsen nicht ernst nimmt, ist nur ein Problem dieses Theaterabends.
Mit diesem Frauenbild kann das nicht werden
An diesem heißen Julitag ist es die letzte Aufführung der Spielzeit und das Haus ausverkauft. Im Oktober 2015 wird das Stück wieder zu sehen sein.
Wie oft verwandelt sich eine gute halbe Stunde vor Beginn das Foyer des Schauspielhauses in einen VHS-Kurs. Dramaturg Bernd Isele erläutert die Handlung und macht Anmerkungen zur Inszenierung und zur Rezeption des Stückes einst und jetzt. Ich finde das befremdlich. Bei Opern leuchtet mir ein kurzer Handlungsabriss ja noch ein. Aber bei einem Schauspiel? Der Spoiler als Konzept. Man hat eine leichte Ahnung, wohin der Abend führen wird, wenn Isele erwähnt, dass schon damals nach der Erstaufführung das Frauenbild in Ibsens dramatischem Gedicht kritisiert wurde. Peer ist ein Lügner und Aufschneider, einer der die Welt in Geschichten »beschönt«, weil schon seine Kindheit nicht die beste war. Doch seine Jugendliebe Solveigh spart sich trotz all seiner (Liebes-)Eskapaden für Peer auf und wartet auch viele, viele Jahre später noch ergeben auf seine Rückkehr. Sowas kann man heute nicht mehr ernsthaft inszenieren. Mit theatralischer Gegenwehr ist zu rechnen.
Bühnentechnische Zwiebel-Zitate
Der Abend beginnt fulminant und ganz so, wie Ibsen es schrieb. Schon im ersten Einsatz der Bühnentechnik liegt Bedeutung: Da heben sich Brandschutz- und Theatervorhang und da heben und öffnen sich in der Tief der Bühne noch einige Türen mehr. Wie das Innerste einer russischen Puppe steht da Edgar Selge und bestrahlt sich mit einem rollbaren Bühnenscheinwerfer selbst. Gleichzeitig ein bühnentechnisches Zitat auf Ibsen. Gynt beschriebt sich als Zwiebel, die unter all den Schichten keinen Kern habe.
Profi Selge ist sofort präsent und gibt äußerst amüsant Peers Jägerlatein zum Besten. Bei Ibsen hört nur Peers Mutter zu, die seine Lügenmärchen nicht glaubt. Bei Rüping wird nicht nur die Jagdgeschichte, sondern Peers ganzes Leben von insgesamt fünf Frauenstimmen kommentiert – und übernommen. Caroline Junghanns, Svenja Liesau, Nathalie Thiede, Birgit Unterweger und Julischka Eichel stehen mikrofonverstärkt an den seitlichen Aufgängen zu den Publikumsrängen und kommentieren Peers Erzählung mal begeistert, mal ungläubig, mal mit Hohn und mal mit Lachen. Die Stimmen werden zum aufschäumenden Wasser und zum Kreischen der Möwen. Fulminantes Sprachtheater – und mit das Beste an diesem Abend.
Christopher Rüping löst die Rollen und Personen auf. Die Schauspielerinnen übernehmen nicht nur abwechselnd die anderen Charaktere, sie werden auch immer wieder selbst zu Peer Gynt oder schildern seine Erlebnisse. 24 Frauen aus dem Publikum werden gemeinschaftlich zur Ingrid, die Peer von einer Hochzeit und in Stuttgart aus dem Theatersaal entführt. Das alles ist nett aber nicht neu, doch wie die 24 dann kurze Zeit später mit den 24 Mitgliedern eines eigens für das Stück zusammengestellten Herrenchors wieder die Bühne betreten, ist ein beeindruckendes Standbild. Natürlich tragen hier erwartungsgemäß die Herren den Brautschleier.
Dominierende Langeweilen ohne nackte Brüste
Das war es dann aber auch schon mit den beeindruckenden Momenten. Dass kurz vor der Pause eine Frachtcontainerattrappe von den Bühnentechnikern mit dem Hubwagen auf die Bühne gezogen wird, ist fast schon die aufregendste der ansonsten den Abend dominierenden Langeweilen.
Leider dominieren den Abend auch die Stimmen der Darstellerinnen mit aufgesetztem und aufgekratztem Theatergeschrei, das mehr nach Schülertheater in der Turnhalle klingt, sobald die Mikros fehlen. Nur selten gönnt der Regisseur seinen Darstellerinnen wirklich intensive Momente. Wenn Peer zu den Trollen kommt, der aber nicht Selge ist, weil der sich draußen um seine entführten Ingriden kümmert, beschmieren sich die Darstellerinnen mit Schmodder, was ebenso langweilig und vorhersehbar ist und sofort seinen Reiz verliert. Und wenn sich Caroline Junghanns ans verschmierte Kleid fasst, da empfindet man beim Zuschauen schon die Angst, dass es jetzt auch gleich noch nackte Brüste zu sehen gibt, weil Christopher Rüping ja auch sonst nichts Originelles für diesen Abend eingefallen ist – oder weil ihm vielleicht zu viel eingefallen ist, was genauso ein Problem ist. Allerdings: Keine nackten Brüste (womit nichts gegen die Brüste von Caroline Junghanns gesagt sein soll). Aufatmen.
Dass die Darstellerinnen allzu oft Peers Story erzählen, lässt den Abend nicht zum Schauspiel, sondern eben zur schlechten Nacherzählung werden, die dieser Abend ja auch ist. Selbst wenn man Ibsens Stück demontieren will, sollte man es ernst nehmen. Und wenn in der Hochzeitsszene, in der sich Peer und Solvejg nahekommen, diesmal wegen einer technischen Panne die Kamera ausfällt, mit der sich die Schauspieler inmitten der Hochzeitsgesellschaft selbst filmen, um ihre Gesichter riesig auf die Rückwand zu projizieren, wenn also diese Rückwand schwarz bleibt, dann ist es der Moment, an dem man förmlich einen kleinen Jungen im Theatersaal schreien hört: »Aber Rüpings Inszenierung hat ja gar nichts Substanzielles!« Wenn der Schnickschnack versagt, bleibt wenig übrig.
Das Publikum lügt mit
Die Pause, so wurde es schon in der Einführung im Foyer angemerkt, ist offen. Die Darsteller bleiben auf der Bühne und improvisieren Peer-Geflunker, und das Mikro wird ins Publikum gereicht, das mitlügen darf. Der Ton wird ins Foyer übertragen, damit auch die mithören können, die an der Theaterbar kühle Getränke holen.
Improvisiert wird mit einer Ãœbung, die ebenfalls jeder kennt, der schon mal einen VHS-Theaterkurs besucht hat: Per »Stopp«-Ruf übernimmt man die Handlung und Haltung eines anderen und führt die Story selbst weiter. Als zuvor nach einer gefühlten Ewigkeit der Container auf der Bühne installiert ist und darin in fast tatsächlicher Ewigkeit weitere Kisten ausgepackt werden, beginnt die Improvisation. Ich springe auf – endlich Pause! – und erlebe einen weiteren schönen Moment an diesem Abend.
Vor der Tür steht die Saaldienerin. Sie schaut mich an und fragt: »Ist schon Pause?« Ich sage, ich bin mir nicht sicher, aber die Schauspielerinnen improvisieren jetzt, und ich gehe mal davon aus, dass gleich Pause sei. Die Saaldienerin weist auf eine kleine Lampe am Boden: »Wenn Pause ist, sollte ich eigentlich ein Lichtzeichen bekommen, um die Türen zu öffnen.« Von unten ruft eine weitere Theaterangestellte hinauf: »Ist schon Pause?« – »Der Herr hier sagt, es ist schon Pause.« – »Also ich vermute, dass es gleich soweit ist«, sage ich, gehe hinaus und beschließe, dass ich mir selbst ausdenken werde, wie dieser Theaterabend ausgeht. Ich könnte es hier ausführlich erzählen. Aber das wäre gelogen.
Wolfgang Tischer
Peer Gynt von Henrik Ibsen am Schauspielhaus Stuttgart. Regie: Christopher Rüping. Besetzung: Caroline Junghanns, Svenja Liesau, Edgar Selge, Nathalie Thiede, Birgit Unterweger, Julischka Eichel und ein Herrenchor.
Weitere Termine am 17., 28. und 31. Oktober 2015.