Wellers Wahre Worte am Café Tisch
November 2000 - Die monatliche Kolumne von Wilhelm Weller


Der Sünder
Verkörpert Christoph Daum die neue deutsche Leitkultur?
Wilhelm Weller


Zu den Eigentümlichkeiten geschichtlichen Geschehens zählt ein aus der Chaostheorie bekanntes Phänomen:
     Der Flügelschlag eines Schmetterlings in China kann eine Kettenreaktion in Gang setzen – an deren Ende ein Twister tobt, zum Beispiel irgendwo in Iowa.
     Wer hätte 1893 geahnt, dass die antisemitisch motivierte Verurteilung des französischen Artilleriehauptmanns Alfred Dreyfuß im Laufe weniger Jahre das Gesicht und die Geschichte Frankreichs völlig verändern würde?
     In diesen Tagen wächst sich die Affäre um den nach Florida geflohenen Christoph Daum aus zu einem sozio-seismischen Beben, das die Fundamente des nationalen Selbstverständnisses nachhaltig erschüttert. Der DFB wankt bereits, werden bald weitere nationale Bastionen folgen?
     Wie reimte doch der verstorbene österreichische Lyriker Hans Hölzel prophetisch:
     »Ganz Wien ist so herrlich hin, hin, hin .. Kokain und Kodein machen uns hin, hin, hin.«
     Auch Berlin?
     Die Älteren unter uns mögen sich erinnern, dass Hildegard Knef 1951 mit einer kurzen Nacktszene in Willi Forsts Film »Die Sünderin« einen vergleichbaren Skandal bewirkte.
     Auch damals wurde mit großer Leidenschaft diskutiert, ob das Jungvolk nicht entsittlichenden Einflüssen ausgesetzt werde.
     Nun, wir alle wissen, wohin die Reise ging.
     Das Gesicht Deutschlands – seien wir ehrlich – ist kaum noch wiederzuerkennen.
     Wie zufällig trifft die heutige Debatte um den verhinderten Nationaltrainer Daum zusammen mit einer erregten Auseinandersetzung um die sogenannte deutsche Leitkultur.
     Ist – wie der SPIEGEL titelte – ganz Deutschland subkutan eine Kokaingesellschaft, ist Koks etwa ebenso „deutsch“ wie die von Angela Merkel hier phänotypisch genannte Kartoffelsuppe?
     Jahrzehntelang war es parteiübergreifender Konsens, dass – in genußspezifischer Hinsicht – das Bier und vulgo das Saufen inhärenter und zentraler Bestandteil deutscher Kultur ist.
     Ebenso wie der Wein zur französischen und der Tee zur englischen (Tisch-) Kultur gehört, ach ja, und das Coke zur amerikanischen.
     Alles vorbei? Heute nur noch Nonsens?
     Muss man zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland in postmoderner Beliebigkeit auch drogenmäßig ein multikulturelles Land ist, in dem Bier und Crack, Koffein und Kokain, Methadon und Nandrolon, aber auch Nikotin und Heroin gleichberechtigt und friedlich nebeneinander konsumiert werden?
     Die lokale Koexistenz von Schweinebraten und Döner, Nasi Goreng und Cevapcici weisen den Weg.

Alfred Dreyfuß konnte die Teufelsinsel, auf die man ihn verbannt hatte, nach vielen Jahren als freier Mann und rehabilitiert verlassen.
     Auch Christoph Daum mag eines Tages Florida wieder verlassen und in seine alte Heimat zurückkehren, in der er sich nun verfemt und verfolgt glaubt.
     Vielleicht findet er dann ein Land vor, in dem es ganz normal ist, verschnupft zu sein.
     In dem die Integration des Kokains in die deutsche Leitkultur auch gesetzlich geregelt ist:
     Durch das deutsche Reinheitsgebot.

Ihr Wilhelm Weller

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