Wellers Wahre Worte am Café Tisch
Oktober 2003 - Die monatliche Kolumne von Wilhelm Weller


Das Wunder von Berlin

Über die beispielgebende Versöhnung von BILD und taz

Wilhelm Weller


Man erinnert sich: Im letzten Jahr machte eine Löwin im Nationalpark von Kenia Schlagzeilen: Statt es als Beute zu fressen, hatte sie ein Antilopenbaby adoptiert und sich rührend fürsorglich um das Kleine gekümmert. Es geschehen also doch noch Wunder.
     Sogar in Berlin. Ende September überließ die links-alternative Berliner »tageszeitung« (taz) BILD-Chefredakteur Kai Diekmann für 24 Stunden die Chef-Redaktion. Und dieser - eigentlich tief getroffen durch eine taz-Satire über seine angebliche Penis-Verlängerung - machte sich in der Höhle des Löwen breit.
     Zusammen mit weiteren Koryphäen der öffentlichen Meinung und des gesunden Volksempfindens wie Jürgen Fliege, Olaf Henkel und den inkontinentalen Kolumnisten Franz Josef Wagner - ein wohl ewig unerreichbar bleibendes Vorbild für unsere Wahren Worte. Und siehe: Es ward Licht und Satz.
     Der ehemalige BILD-Chefredakteur und KOHL-Regierungssprecher, Peter Boenisch, seit längerem schon altersweiser Grandseigneur des gepflegten Polit-Parlandos zog auf der ersten Seite der bildbunt gewordenen taz das den Tag transzendierende Fazit:
     »Wenn die Redakteure der taz und ihre Lieblingsfeinde zusammenarbeiten, um ein Jubiläum zu feiern, dann sollte unsere politische Klasse etwas Vergleichbares schaffen.«
     Genau. Was wir brauchen, ist Empathie. Für einen Tag sich ganz in den anderen einfühlen und wie könnte das besser geschehen, als in seine Rolle zu schlüpfen? Angela und Gerd zum Beispiel.
     Warum nicht dem Tag der deutschen Einheit eine noch tiefere Bedeutung verleihen, indem man die Opposition für 24 Stunden ans Ruder und die Regierung opponieren lässt?
     Die Anwendungsgebiete des Empathieprogramms scheinen schier grenzenlos, zumindest bietet das Jahr 365 Gelegenheiten für einen feiertäglichen Rollentausch.
     Mögen die Patienten einmal die Ärzte verarzten und die Ärzte jammern und klagen, sollen die bösen Buben einmal die Wächter bewachen und die Wächter hinter Stäben nach Freiheit schmachten ... eine Welle des wechselseitigen Verständnisses könnte durch das Land rollen und uns aus Intoleranz und Ressentiment erwecken lassen.
     Wir sind ein Volk. Mehr noch: Wir sind eine Welt.
     Wäre nicht auch der jüngste Krieg durch ein Cross-Leasing der Macht vermeidbar gewesen?
     Der Vorschlag von Saddam Hussein zielte bereits in die richtige Richtung. Er wollte den Disput mit seinem politischen Gegner in einer amerikanischen Talkshow austragen. Richtig gedacht, aber doch nicht zu Ende gedacht.
     Hätte man ihn nur einen Tag an der Schalter der Macht in Washington gebracht, Hussein wäre heute möglicherweise ein überzeugter Anhänger der parlamentarischen Demokratie und hätte in Bagdad vollbracht, was nun Paul Bremer dort mit großen Opfern mehr schlecht als recht macht. Und der amerikanische Präsident hätte am Tigris tiefere Einsicht in das Wesen der orientalischen und islamischen Seele gewinnen können, ein unschätzbarer Gewinn für eine kulturell und religiös zerrissene Welt.
     Mehr denn je also ist zur Lösung der großen Menschheitsprobleme Phantasie angesagt.

Wilhelm Weller

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