Strandkorb am Meer

 

 

 

Urlaub am Meer II

 

Helmut
Beckmann

Sylt,
Premiere

Wohin wir in diesem Jahr in Urlaub fahren, fragte ich meine Frau und erwartete ein Schulterzucken. Wenn sie schon das Haus und den Garten besorgt, kann ich mich wenigsten um den Teil der Freizeit kümmern, den wir gemeinsam verbringen. Nach Sylt, antwortete sie. Ich verweilte für einen Moment in den südlichen Landstrichen von Umbrien und sagte dann: Ja. Nach vielen Ehejahren weiß ich, wann es nicht nach meinen Vorstellungen geht.

Samstag

Wann beginnen die berichtenswerten Zeitspannen des Urlaubs? Mit der Hinfahrt oder erst nach der Ankunft? Für Autoreisende gibt es die Standardfrage zu den Urlaubsberichten, ob man denn gut durchgekommen sei. Nach den Durchsagen des Verkehrsfunks sind wir bis Hamburg eine gute Stunde vor dem Stau, obwohl wir nicht besonders früh um halb acht Uhr am Morgen aufgebrochen sind. Unsere Tochter ist mit Bekannten bereits seit zwei Uhr Nachts nach Dänemark unterwegs. Während wir zügig auf den Elbtunnel zufahren, wartet sie in Dänemark, dass das Haus aufgeschlossen wird.
     Zwischen Hamburg und Flensburg haben sich Verkehrspfropfen gebildet, mal geht es einige Kilometer mit Tempo hundertvierzig, dann bleiben wir wieder stecken. Es hätte schlimmer kommen können. Samstag ist Bettenwechsel, heißt es. Als wir von der A7 auf die Bundesstraße nach Niebüll abbiegen, sind wir scheinbar die einzigen Sylt-Urlauber. In Niebüll an der Autoverladung herrscht auch kein großes Gedränge, aber Wiedersehen mit einigen Dränglern.
     In bin gespannt auf den Hindenburgdamm, der das Festland mit der Insel durch das Wattenmeer verbindet. Bei der Überfahrt ist das Meer rechts und links so weit weg, dass ich mich auf der gesamten Strecke »auf Land« fühle. Niedrigwasser.
     Auf der kurzen Fahrt vom Bahnhof in Westerland und durch Wennigstedt sind die Autos auffällig, auf die ich normalerweise überhaupt nicht achte. Die vier süddeutschen Marken dominieren, darunter die größeren Modelle und die sportlichen, kaum eines älter als drei Jahre. Hier ist der Wohlstand unter sich.

Gespannt bin ich auch auf die Ferienwohnung, die im Internet für 240.000 € zum Verkauf steht. Die zwei Zimmer sind hübsch eingerichtet, aber unpraktisch. Ich weiß nicht, wo ich auf 50 m² mein Portemonnaie, das Telefon, die Papiere, die Kamera, Schlüssel, Bücher ablegen soll. Überall steht und liegt Schnickschnack, selbst der Esstisch ist erst zu gebrauchen, wenn die große Obstschale weggestellt wird. Wohin? Auf den Couchtisch, der ist dann nur halb voll, oder noch halb leer. Im Schlafzimmer kann ich meinen Koffer so stellen, dass ich beim Zubettgehen nicht über ihn stolpere.

Sonntag

Ich drehe mich nur noch ein Mal herum, als ich wach werde, bereite das Frühstück vor und gehe einen Strandkorb mieten. Am Wochenende und bei angekündigten 30 Grad glaube ich um halb zehn Uhr Morgens nicht so recht an meine Chance, zu viele Leute sind auch schon unterwegs. Ich bin angenehm überrascht, dass ich ohne Schwierigkeiten eine Korb bekomme, gleich für die gesamte Woche. Der Grund fällt mir ins Auge, als ich die Treppe vom Strand zur Straße hinauf steige. Viele Sonnenzelte sind am Strand aufgeschlagen, wie sie bei Aldi in jedem Frühjahr verkauft werden.

Strandkorb Nr. 40 bleibt zunächst unauffindbar, obwohl das so schwierig nicht sein kann bei den großen, auf die Rückseite gepinselten Zahlen. Der Trick ist, sich nicht nur auf die unbesetzten Körbe zu konzentrieren. Die Frau in Nr. 40 entschuldigt sich höflich und geht nach nebenan unter eines der Aldi-Sonnenzelte. Wir richten uns ein, mit dem Rücken zur Sonne, aber auf schiefer Ebene, der Korb steht zu weit oben nahe dem die Düne hochwachsenden Gras. Irgendwie geht es; wenn ich ein Bein lang strecke und das andere in den Sand stütze, liege ich meiner Frau nicht in der Seite. Das muss geändert werden, entscheiden wir, nicht sofort aber demnächst. Fünf Meter weiter in Richtung Wasser ist der Sand flacher, und vielleicht sind dort sogar weniger Insekten. Ich schnippe dabei mit der Fingerspitze eine Biene von meinem Bauch in den Sand. Die Tierchen scheinen ebenso wie wir unter der Hitze zu leiden, sie landen auf mir, weil ich durch die Sonnencreme schwitze. Dabei gebärden sie sich freundlich, wollen sich offensichtlich nur ausruhen und nicht stechen, aber ich will nicht warten, bis sie wieder abfliegen, dafür gibt es zu viele. Ich wische sie mit einer Handbewegung weg, und im Verlaufe der nächsten Stunden liegen sie dutzendfach verendet im Sand. Drei Sorten kann ich unterscheiden: Eine gelb-schwarze mit dünnem Leib, die ich von früheren Urlauben im niedersächsischen Flachland an der Weser kenne, eine dickere schwarz-weiß gestreifte, Typ unbekannt, und die dicke gelb-schwarze, bei der mein Kopf immer »Wespe« schreit.
     Ich lege das Buch (Baldacci, Die Verschwörung) aus der Hand. Mir fällt schwer, mich auf die Geschichte zu konzentrieren, jeweils nach wenigen Sätzen muss ich Fliegendes von mir abwehren. Neben uns wird ein anderer Strandkorb bezogen, ein Ehepaar mit halb erwachsenen Kindern, er mit einem Mobiltelefon. Bei welchem Provider er wohl angemeldet ist? Er spricht, während ich keine Netzverbindung habe. Eigentlich brauche ich keine, aber wenn das Ding schon da ist, könnte ich wichtig tun und mit dem Töchterchen in Dänemark telefonieren und die Lufttemperaturen abgleichen. Der Strandkorb nebenan wird bewegt, nachdem die Frau eine Zeit lang vergeblich mit dem Handtuch gewedelt hat. Sie ist von den Bienen und Wespen genervt und will jetzt erst mal ins Wasser. Viel Vergnügen, sage ich zu meiner Frau, und viel Spaß mit den Quallen. Ich war schon ein halbes Stündchen den Strand entlang gegangen, immer um die im Sand liegenden Puddings herum. Auch hier keine Entspannung, sondern ständige Aufmerksamkeit. Dazwischen Halbnacktes und Nacktes, wie Hermann Mensing schrieb, unbedeckte Brüste und ein nackter Alter, der dem Meer entsteigt und zu seinem hundert Meter entfernten Strandkorb geht. Ich finde das ein seltsames Benehmen.

Am Abend gehen wir wieder zum Strand, den Strandkorb verrücken und den Sonnenuntergang mit einer Flasche Rotwein und zwei Pappbechern genießen. Die Sonne taucht glutrot ins Meer, scheinbar ohne das Wasser zu berühren und ohne es einzufärben, geradezu klassisch.

Montag

Ich improvisiere eine Erkundungsfahrt über die Insel in Richtung Norden, durch Kampen bis kurz vor List. Eigentlich suchen wir ein Schuhgeschäft, weil meine Frau keine sandtauglichen Schuhe hat. Im Vorbeifahren nehmen wir mit, was Kampen so attraktiv macht - das Unbezahlbare der reetgedeckten Häuser und die Geschäfte. Selbstverständlich ist die Atmosphäre im Vorbeifahren nicht wirklich teuer, sie entfaltet sich in unseren Köpfen, weil wir wie jedermann wissen, dass in Kampen Geld keine Rolle spielt.
     Wir fahren zurück bis nach Westerland. Vom Parkplatz sind es nur ein paar Schritte bis in die Friedrichstraße - shopping. In einer Viertelstunde haben wir ein Paar Leinenschuhe und noch eine weiße Strandhose - sie trägt gerade eine - und ein rosa-weißes Shirt, später kommt noch eine schwarze Leinenbluse hinzu.
     Das Publikum wirkt spürbar anders als bei uns im Ort. Das kann am städtischen Gedränge liegen oder an den Leuten, die bei 31 Grad schwitzend vor einem Bier und einem warmen Mittagessen an der Straße sitzen. Nur an Gosch, hat mir ein Kollege gesteckt, der nach eigenem Bekunden keine Sylt-Erfahrung hat, darf man nicht vorbei gehen. Er hat Recht, der Imbiss mit der Speisekarte rund um den gehobenen Geschmack an Meeresfrüchten ist gut besucht. Es gibt Nordseekrabben mit Hummersauce.

Heute fliegt weniger am Strand als gestern, und was noch fliegt, schwächelt. Ich mache mit Baldacci einen zweiten Versuch. Die Bienen lassen mich abschnittsweise lesen und nicht mehr nur Satz für Satz. Der Roman wird dadurch nicht besser. Baldacci beschreibt und erklärt, aber erzählt nicht, wäre meine Kritik gewesen, wenn der Text im Literatur-Café gestanden hätte. Nach dem dritten Kapitel, als endlich spannende Handlung einsetzt, kommt ein cliff hanger. Das war’s dann, sage ich zu meiner Frau, den Erzählband aus ihrem Weihnachtsgeschenk, den ich eigentlich lesen wollte, hätte ich leider zu Hause vergessen. Sie reicht mir den Spiegel. Was ich dort über unsere Branche lese, lässt mich die Insekten vergessen.

Gegen acht Uhr mache ich mich auf einen abendlichen Erkundungsgang. Dort, wo die Fahnen am Kliff wehen, finde ich einen Großteil des Ortes versammelt, bei Gosch, aufgereiht entlang einer Balustrade und mit Gläsern, die in der Wärme beschlagen. Sun downer - wie konnte ich nur so naiv sein zu glauben, nur wir wüssten einen Sonnenuntergang am Meer zu schätzen. Um neun Uhr löst sich die Sonne einen Zentimeter über dem Horizont im Dunst auf. War nichts. Vermutlich werden die Leute bei Gosch am Kliff in ihrer Geselligkeit den Sonnenuntergang gar nicht mehr mitbekommen haben. Ich sitze im Strandkorb und beobachte, wie mühselig es trotz der Brise ist, Schnüre zu entwirren und Drachen steigen zu lassen. Bei mir fielen sie auch gern vom Himmel, wenn ich sie überhaupt nach oben gebracht habe.

Dienstag

In Keitum gebe es viele Bäume, sagte mir ein anderer Sylt erfahrener Kollege, als ich noch nach einer Ferienwohnung suchte. Wohnen im Halbdunkeln, das wollte ich nicht. Vom Zug aus im Vorbeifahren hatte sich am Samstag meine Meinung bestätigt. Es stehen in Keitum wirklich mehr Bäume als anderswo auf der Insel, aber so weit auseinander oder auf privaten Grundstücken, dass wir nach dem Rundgang durch das Dorf und ein Stück am Wattenmeer entlang vor der Sonne in ein Restaurant unter Bäume fliehen. Schön, dass wir hier auch außerhalb der vom Arbeitsrhythmus bestimmten Essenszeiten Gast sein dürfen; das ist nach unseren Erfahrungen nicht selbstverständlich. Der Matjes ist mit Pfiff angemacht, in einer leichten Sahnedillsauce mit großen Gurkenstückchen und Tomatenwürfeln und jungem Porree.

Vom idyllisch ruhigen Keitum fahren wir ins benachbarte Archsum. Meine Frau kramt einen Zettel mit einer Wegbeschreibung aus dem Rucksack. Am Ziel liegt ein hübsches Friesenhaus, in dem ein Arbeitskollege regelmäßig seinen Sommerurlaub verbringt. Ich mache ein Foto zum Vorzeigen, dass wir da gewesen sind. Von diesem Kollegen meiner Frau stammt der Baldacci in unserem Urlaubsgepäck, erfahre ich. Er bekommt ihn, mit Foto und einigen sonnencremebefleckten Seiten (Entschuldigung !) zurück. Von der Erwähnung weiterer Kollegen werde ich jetzt Abstand nehmen, schließlich ist Urlaub.

Heute Abend fällt der Sonnenuntergang aus. Im Westen haben sich über dem Horizont Wolkentürmchen aufgebaut. Ich muss das Foto - Sonne plumpst ins Meer - auf einen anderen Tag verschieben.

Mittwoch

Morgenröte ist ein schönes Wort. Um 4.32 Uhr ist der Himmel über den Dächern zartrot gefärbt, dazwischen bis zu den grauen Wolken ein heller Streifen. Um aufzubleiben ist es noch zu früh.

In meiner Ehe tut sich Entscheidendes. Meine Frau übernimmt die Programmgestaltung und schlägt eine Fahrt zu den Seehundbänken vor. Es gibt für mich kein Wetter für Seehundbänke-Fahrten, aber Wetter für den Strand. Heute ist es bedeckt und kühler, also Ausflugswetter. Vor Kampen holen mich drei Kilometer Stau aus dem Urlaubsgefühl; am Urlaubsort möchte ich nicht das erleben, was ich Zuhause zur Genüge haben kann. Wir kommen rechtzeitig vor der fahrplanmäßigen Abfahrt des Schiffes in List am Hafen an, sogar zwei Tage zu früh, denn die Fahrten sind gefragt; alle Urlauber bekommen von ihren Vermietagenturen die gleichen Prospekte. Am Hafen ist in den Läden und in der nördlichsten Fischbude Deutschlands - natürlich Gosch - gerammelter Betrieb. Wir finden nebenan einen Sandstrand mit einer kleinen Düne, nicht bewirtschaftet und in natura, wenn man die sorgsam zu Häuflein zusammen gelegten Bierflaschen übersieht.
     An Gosch geht dann doch kein Weg vorbei. Scampis auf grünen Nudeln in Knoblauchsauce - das ist leichte italienische Kost, ganz in meinem Sinne.

Am späten Nachmittag fallen Regentropfen. Meine Frau hat noch einen Programmpunkt: Lesen und Rotwein trinken im Strandkorb. Wieder eine gute Idee. Die Nordsee ist trotz der Regenwolken ruhig wie das Mittelmeer an azurblauen Tagen, sie strömt eine unmittelbar erfahrbare Kraft aus: Ruhe. Die Sonne bricht gelegentlich aus Wolkenlöchern, meistens nur mit Strahlen, die Wolken und Meer silbrig einfärben. Wo die Wolken vorherrschen, bleiben der Himmel und das Meer dunkelgrau-blau, in der Tönung scharf voneinander abgegrenzt.

Donnerstag

Ausflugswetter, sagt der wolkenverhangene Himmel am Morgen und wechselt bis zum Mittag zu Strandwetter. Zu spät. Wir laufen über und um das Morsumer Kliff und begegnen dabei nur wenigen Urlaubern. Der Weg ist offensichtlich kein event, unspektakulär, reine Natur aus Dünen mit abwechselnd hellem und weißem Sand, Heide und Wattenmeer. Wir beobachten den regen Zugverkehr über den Hindenburgdamm in beiden Richtungen.

Hier in Morsum findet alljährlich - schon über vierzig Mal! - das traditionelle Krebsessen der Familie Baumann statt, habe ich in der Welt am Sonntag gelesen. Liz Hurley war auch dabei. Wer nicht eingeladen war, hat sich die Krebse selbst gekauft, damit er die Frage, was er denn gestern gemacht habe, mit »Krebse essen« beantworten konnte (stand auch in der Zeitung). Mein Gott, haben die Leute Sorgen.

Der Wind hat sich seit gestern merklich gelegt und erschwert die Abkühlung in unserer Wohnung. Die Nordsee liegt flach, fast ohne Dünung, und das müde Geschrei von wenigen Kindern am Abend übertönt das Rauschen des Meeres.

Ach ja: Ich dünste Pfifferlinge mit Zwiebeln und Rührei in der Pfanne. Meine Frau kocht sich Nudeln, spaghetti natur.

Freitag (der 13.)

Für heute hatten wir die Fahrt mit dem Kutter gebucht, Gret Palucca, 13.15 Uhr ab List. Kein Stau vor Kampen, also stehen wir sehr pünktlich im Regen und beobachten, wie die Gret Palucca von der 11.30-Uhr-Fahrt zurück in den Hafen einläuft. Die Fahrgäste kommen wie begossene Pudel von Bord; auf einem Kutter gibt es kein Unterdeck, in das man sich bei schlechtem Wetter zurückziehen könnte. (Nur zwei Toiletten, achtern; aber wer schafft es schon, anderthalb Stunden zu pinkeln.) Im Regen lassen sich grob zwei Kategorien von Urlaubern ausmachen: Mit und ohne Regenschirm. Wir gehören zur Klasse »mit«. Die ohne Regenschirm ist durchschnittlich jünger und sportlicher, hier versammeln sich die wettergegerbten, Nordsee erfahrenen Urlauber, die Fast-Einheimischen. Unter diesen lassen sich noch die mit Regenanorak und Kapuze und die ohne Kapuze, nur mit Pullover oder Fleece-Jacke, unterscheiden. Die Letzteren halte ich für Ignoranten - Regen macht überall auf der Welt nass. Denkbar ist auch eine praktizierte Form von Abgrenzung, der Ausdruck einer inneren Einstellung: Wir hier, die gewohnt sind, das Leben unabhängig zu führen, und ihr, die ihr schon vor dem Regen einknickt.
     Pünktlich wirft die Gret Palucca ihren Diesel an, rührt sich aber nicht vom Fleck. Dann ist wieder Ruhe. Motorschaden. Ich tausche die Fahrkarten um, für Sonntag, gleiche Zeit.
     Die geschenkte Zeit verbringen wir in den Geschäften der Alten Tonnenhalle. Die Päpstin werde ich auf Empfehlung meiner Frau lesen - interessant, stieß ich doch vor einem Jahr bei ihr mit diesem Titel auf taube Ohren.

Dieser Freitag hat es in sich. Ich schaue - reiner Zufall - geradeaus direkt auf die Kappe mit dem Schriftzug Henry C. Baker. Bei Zufällen bin ich bereit, Zugeständnisse zu machen, hat sich doch das eine oder andere Mal das Unmögliche als die Realität erwiesen. Es entspann sich folgender Dialog:
     »Moin - äh - Henry, vom LC
     Wenn er die Abkürzung LC schluckt statt Literatur-Café, dann hat er keine Chance mehr, sich zu verleugnen.
     »Moin, moin«, antwortet mein Gegenüber.
     »Äh - ja?«
     »Jau, nä«, sagt er.
     Wirklich, ein interessanter Typ. Heimlich fotografiere ich ihn mit seiner Kappe.

Bei Gosch gibt es Ofenkartoffeln mit Soer-Sauce und Flusskrebsfleisch. Ein Grund, wieder zu kommen.

Das Wetter bessert sich zum Abend hin. Zu spät. Das Ende des Tages versinkt im Nichtstun - bis auf diesen Tagebucheintrag hier.

Samstag

Zum Urlaubstagebuch gehört der tägliche Wetterbericht. Der Wetterbericht ist wie ein ärztliches Bulletin, er entscheidet mit, ob ich vom Parkplatz nach rechts oder nach links abbiege oder zu Fuß gehe. Die Sonne scheint, es ist nicht zu heiß und ein angenehmer Wind weht. Wir gehen zu Fuß zum Strand. Keine Insekten, keine Quallen. Muße, Entspannung, nichts worüber sich im Plauderton schreiben ließe, außer vielleicht über das Gefühl, dass wir in der Erholung angekommen sind. Das Meer ist lebhaft und zeigt endlich Charakter; zögernd stelle ich mich in die Brandung und genieße die Erfrischung bis zu den Hüften.

Im Strandkorb bimmelt das Mobiltelefon meiner Frau. Wenn sie »Guten Tag« sagt, ist der Anrufer niemand aus dem Verwandten- oder Freundeskreis.
     Und?, frage ich.
     Mona, unsere Katze, ist in der Nacht von Freitag auf Samstag auf beiden Augen erblindet.

Es ist schon spät, als wir noch einmal zum Strand gehen. Trotzdem dauert es noch über eine Stunde, bis sich der Horizont vollständig verdunkelt hat. Ein Sternenhimmel zieht auf, zwischen dem von Westerland herüber scheinenden Licht und dem hell erleuchteten Kurzentrum rechts von uns.
     Wenn wir reden, dann über unsere Katze. Sie wurde als ängstlich und männerscheu ins Tierheim abgeben und dann mit medienwirksamem Appell an die Tierliebe vermittelt. Dabei war sie einfach nur krank und der wiederkehrende Durchfall neben das Katzenklo die Folge eines Tumors. Das festzustellen war wesentlich teurer als die 10 € im Vierteljahr für die Kortison-Tabletten. Mona blieb nach wie vor ruhig, lebte aber auf und zahlte sogar in Schmuseeinheiten zurück - das ist eine anerkannte Therapie für die menschliche Seele.

Sonntag

Um zwölf Uhr ruft die Tierärztin an. Monas Zustand hat sich sehr verschlechtert, wahrscheinlich ist der Tumor am Darm geplatzt. Meine Frau gibt die Einwilligung zum Einschläfern. Sie wäre gerne für zwei Tage zurückgefahren, aber Zuwarten wäre nur eine Qual für das Tier.

Wir fahren nach List zu der gebuchten Fahrt mit dem Kutter Gret Palucca. Es wird ein Netz ausgeworfen und eingezogen, viel Lehrreiches, kinderfreundlich aufbereitet, und einiges an Seemannsgarn, geboten von jemandem, der aussieht wie Hein Mück. Wegen des Windes - Böen mit Stärke acht - traut sich der Kutter nicht ins offene Meer und bleibt am Sylter Ellenbogen und der Vogelschutzinsel Üthorn hängen. Dort gibt es auch Seehunde, aber so weit entfernt, dass die Seehunde selbst durch das Fernrohr nur wie Fliegendreck auf dem Okular wirken. Inzwischen spielen die Kinder mit den Krabben auf Deck Wettrennen und werfen sie dann über Bord, wie Hein Mück ihnen das während seines Vortrages vorgemacht hat.

Essen bei Gosch. Es gibt Alternativen zu Gosch, bei denen jedoch zu viel mit Fleisch geworben wird.

Montag

Kampen.
     Ich müsste mit diesem Wort beginnen und gleichzeitig abschließen, alles wäre damit gesagt; eine Fußnote sozusagen auf die einschlägigen Medienberichte. Ich kann den mitgebrachten Ballast beim Schlendern durch den Ort nicht abwerfen.
     Plakate informieren über den 7. Kampener Literatursommer. Ingrid Noll kommt, Karasek erst, wenn wir schon wieder abgefahren sind. Kampen ist eben in jeder Hinsicht ein Ort für Etablierte.
     Empfehlenswert ist der Weg vom Ort durch die mit Erika bewachsenen Dünen zum Roten Kliff. Von diesem Weg aus sieht man Wattenmeer und Nordsee gleichzeitig. Am Strand angekommen, beginnt es zu regnen. Wir gehen zurück, der Regen wird heftiger bis zum Wolkenbruch. Wir fahren angenässt nach Hause.
     Auch andere denken so wie wir: Bei diesem Wetter sollst du Geld ausgeben. Bei Feinkost Meyer herrscht Ausnahmezustand auf dem Parkplatz. Wir decken uns mit verschiedenen leckeren Salaten und einer geschälten Ananas ein.

Dienstag

Blick aus dem Fenster: Regenwolken rotten sich zusammen, dann gießt es in Strömen. Was soll’s? Wir haben noch nicht einmal gefrühstückt.
     Heute gebe ich den Ton an: Erkundung des südlichen Inselabschnittes. Schon auf der Fahrt nach Hörnum werden mir die Jeans zu warm. Ich hatte kein Vertrauen bei der Abfahrt, obwohl es nicht mehr regnete. Optimistischer als ich sind die vielen Radfahrer, die auf der Strecke zwischen Westerland und Hörnum unterwegs sind. Vermutlich hat das Verhalten der Radfahrer etwas mit der inneren Einstellung zu tun - sie fahren auf zwei statt auf vier Rädern und sind bereit, sich bis auf die Haut durchnässen zu lassen. Wer diese Bereitschaft nicht mitbringt, gehört nicht auf diese Insel.
     In der Ansicht wirkt Hörnum, am südlichen Zipfel der Insel gelegen, auf mich konturenlos. Die Anzahl der Geschäfte und Lokale ist immer ein Gradmesser für die Lebhaftigkeit eines Ortes. Danach betrachtet ist es hier eher ruhig und ein Zeichen, dass in Hörnum ein Publikum mit anderen Vorstellungen über den Urlaub verkehrt als in Wenningstedt, Kampen oder List.
     Am Hafen rieche ich Currywurst und Pommes frites. Meine Geschmacksnerven reagieren.

Im Vorbeifahren an den Dünen zwischen Hörnum und Rantum stellt sich bei mir das Inselgefühl ein. Genauer beschreiben kann diesen Zustand nicht. Ich brauche dazu den Blick auf die rotgrün bewachsenen Dünen mit den wie offene Wunden darüber verstreut liegenden Sandflecken und die Vorstellung, dass hinter diesen Hügeln das Meer liegt.
     In Rantum fallen mir viele neu gebaute Häuser auf. Mit ihren Reetdächern und den hergebrachten Formen und Fassaden sehen sie aus, als habe man ihnen ein face-lifting verpasst - alt und immer noch schön.
     Auf der Suche nach einem Kiosk - wir haben Durst - biege ich in Rantum zum Hafen ab. Wir finden drei Geschäfte, nichts Trinkbares, und einen Platz mit hoch gestapelten Getränkekisten hinter einer Halle. Erst im Wegfahren bemerken wir, dass wir direkt an der Sylt-Quelle geparkt haben: Für 1,50 € darf hier jeder Gast so viel Mineralwasser trinken, wie er kann.
     Auf dem Nachhauseweg halten wir an einem Restaurant und bestellen Matjes.

Die Sonne hat sich für den Rest des Tages durchgesetzt, und wir gehen zum Strand. Ich fühle mich plötzlich wieder entspannt, im Urlaub angekommen, wie am Samstag vor dem Anruf wegen unserer Katze.
     Ich lese Die Päpstin. Zwischendurch gehe ich zurück zur Wohnung, hole Jacken gegen den kalten Wind und organisiere ein kleines Picknick im Strandkorb aus unserem Kühlschrank: Brot, Gouda und prosciutto, Rotwein. Der Wolkenhimmel ist ebenso bemerkenswert wie der Roman. Immer, wenn ich aufschaue - und das ist wegen der vielfältigen Ablenkungen am Strand nicht selten - hat er sich verändert, obwohl der Wind jetzt mehr und mehr nachlässt (weil ich die Jacken geholt habe) und der Himmel wie erstarrt erscheint. Im Gegenlicht der längst versunkenen Sonne steht plötzlich ein Pinienwald über dem Horizont, dessen Kronen sich durch einen Streifen milchigweißen Morgennebel zum Himmel recken.

Mittwoch

Kein Tag im Leben sollte bedeutungslos sein, doch dieser ist es. Das Warten auf die Sonne dauert länger als gestern und auch dann ist die Wärme gerade ausreichend, um kurz zu tragen. Der Tag beginnt eigentlich erst, als wir uns zum Strand aufmachen.

Wieder einmal ist unser Strandkorb während unserer Abwesenheit benutzt worden. Er steht zwar heute noch an der Stelle und in die Richtung, wie wir ihn verlassen haben, aber dieses Mal darf ich den Abfall fremder Leute zum Container tragen. Das Abhandenkommen meiner spielerisch zusammen getragenen Muschelsammlung konnte ich noch ertragen, und auch den Verlust des 20-Cent-Stückes aus Griechenland, das ich im Strandkorb an die Seite legte und vergaß. Was mich stört, ist diese selbstverständliche Inanspruchnahme über Tag, denn am späten Nachmittag und abends sitzen wir drin.
     Eine andere Art von Selbstverständlichkeit ist bemerkenswerter. Oben ohne ist längst kein Thema mehr und auch an die sich zum Teil lang hinziehenden öffentlichen Umziehhandlungen der Alten am Strand kann man sich gewöhnen, man muss die Augen nur ein paar Grad mehr nach rechts oder links wenden und geduldig warten, bis der eigene Blickwinkel wieder frei wird, oder das nächste Kapitel im mitgebrachten Buch lesen. Aber unten ohne? Ist das Dummheit, eine Weltanschauung oder Altersdemenz? Spät steigen noch zwei sehr alte Damen aus dem Meer, nur mit Badekappe bekleidet. Das gibt Gelegenheit zum Nachdenken und darüber Reden. Wären sie jung gewesen, hätten wir uns an dem Anblick erfreut und erotisch stimuliert, weil sie jedoch schlaff und faltig sind, finden wir das abstoßend? Ist Ästhetik das Kriterium? Oder die Würde des Alters, die keiner Nacktheit mehr bedarf? In Anbetracht der Überalterung unserer Gesellschaft kommt da noch einiges Umdenken auf uns zu.

Ach so: Currywurst mit Pommes frites. Die Pommes frites schmecken nicht; sie wurden aus einer Presse mit Kartoffelpüree geformt.

Donnerstag

Für die Statistik: Das Wetter ist durchwachsen. Wie mit unserer Tochter abgesprochen, fahren wir von Sylt nach Puttgarden, um sie von ihrem Dänemark-Urlaub mit nach Hause zu nehmen. 216 km von Sylt, habe ich ausgerechnet, aber mal eben von der Nordsee zur Ostsee zu fahren ist zeitlich gesehen kein Katzensprung. Bemerkenswert: Der Hindenburgdamm bei Hochwasser und die schöne holsteinische Hügellandschaft zwischen Kiel und Oldenburg.

Wir kommen zu spät nach Sylt zurück. Alle Restaurant-Tische sind besetzt, selbst Feinkost Meyer in Wenningstedt hat schon geschlossen. Durch Zufall entdecke ich noch eine Konkurrenz von Gosch, bei der wir zwar nicht mehr sitzen, aber einkaufen können. Essen ist gut, findet unsere Tochter, aber der Strand ist wichtiger. Die Nordsee präsentiert sich durch den heftigen Wind in bester Verfassung und weiß schäumender Brandung. Das hatten wir bis jetzt noch nicht, endlich geht es bei nicht zu kaltem Wind heftig zur Sache. Der Wind fegt den Salzschaum über den Strand und poliert die Fußspuren aus und trägt uns die Hälfte des Weges von Westerland zurück. Bei Gosch am Kurzentrum sitzt man jetzt drinnen, aber ebenso ausgelassen.
     Der Eisitaliener an Kurzentrum scheint vom Wetter unabhängig zu sein. Er verkauft und verkauft, an uns ein Spaghetti-Eis. Das Eis ist bei diesem Wind scheinbar so verlockend, dass wir angesprochen und um eine Wegbeschreibung zum Eisitaliener gebeten werden. Zweimal links.

Freitag

Wir fahren nach Hause. Die Frage, ob wir wiederkommen möchten, haben wir mit ja beantwortet. Die Nachmittage und Abende am Strand gaben den Ausschlag, da haben wir mit der Natur geatmet. Sylt im Winter stellen wir uns auch reizvoll vor: Das könnte unsere nächste Entdeckung sein.

Helmut Beckmann

Außerdem zum Thema im Literatur-Café:
Urlaub am Meer I: »Über Halbnackte und Nackte« von Hermann Mensing
Die unsichtbaren Spuren - Heidrun Schallers Erinnerungen an die Insel Sylt

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