Die unsichtbaren Spuren
Heidrun Schallers Erinnerungen an die Insel Sylt

SyltSeit nunmehr sieben Monaten, in denen das eine Jahr sich erst rotbuntgoldete, dann seine Dunkelheit auf ihrem Höhepunkt durch Kerzen erhellte und sich nun ein neues Jahr mit Frühlingsgrün aus dem Winterschlaf erhebt, fühlte ich den kleinen weißen Stein, dieses Versprechen der Wiederkehr in meiner Winterjacke, die mich durch meinen Alttag führte.
     Dieses Steinchen das ich bei meinem letzen Gang am Meeressaum bewusst als Symbol dafür an mich genommen hatte, dass ich wiederkommen würde, dass ich erneut Spuren ziehen wollte an diesem Strand, fühlen wollte, diesen Frieden, der mich erfasste, wenn ich dem Möwenflug vor der endlosen Weite des Meeres folgen wollte, in den Ohren die Melodie von Brandung und Ewigkeit.
     Wie doch ganz andres hört sich das Geschrei der hungrigen Möwen im Hamburger Hafen an, als seien die Großstadtmöwen freche, ungebildete Rüpel und die Sylter Möwen, wohlerzogene, feingeistige Herren, oder waren sie nicht sogar eher ausgelassene, glückliche Mädchen im weißen Kleidchen, die dort oben segelten? Weiß wie mein kleiner Stein, der sich über Jahrmillionen hin, von den Wellen, der Brandung, den Stürmen hat hin und hertreiben lasen, er der vielleicht einst am Gebirge in Norwegen oder in einem noch ferneren Land, seine feste Heimat hatte und dann von einem Gletscher abgerissen, sich auf seine lange und weite Wanderung im Geschiebe der kommenden und gehenden Eiszeiten gemacht hatte.
     Er, der auf diesem Weg immer kleiner geworden ist, bis er die für mich so handschmeichelnde Größe erhalten hatte.
     Doch noch war es nicht so weit, noch galt es Alltag zu leben, die Sehnsucht wach zu halten durch diese letzten Tage in den Häuserschluchten, Büroetagen und Realitäten.
     Doch mit Hilfe des kleinen Steinchens und dem Spaziergang am Falkensteiner Ufer der Elbe in Hamburg, mit diesem ersten Barfußgang Mitte April, der die Zehen rötete und der Seele Versprechungen machte, rückte alles schon ganz nahe an mich heran. Konnte ich Salz auf meinen Lippen spüren, schmecken, hörte ich den Ruf der Brandung.
     Den eigenen Spuren folgen, mir und meinem vergangenen Leben auf Schritt und Tritt begegnen, das kann ich nur selber, da diese Spuren nur in meinem eigenen Gedächtnis, in der Erinnerung, in Bildern und Geschichten gespeichert sind, unsichtbar jedem anderen Menschen, der diese Wege geht, dieses Meeresrauschen hört, sich den Sand durch die Finger rieseln lässt.
Friesenhaus in Keitum     Nur ich kann mir meine Spuren, meine dreißigfachen Erinnerungen auf dieser Insel sichtbar machen, jetzt wo ich seit heute endlich wieder da bin, auf meiner geliebten Insel Sylt in meinem verträumten reetgedeckten zweihundert Jahre alten Friesenhaus in Keitum.
     Meine Gedächtnisspuren führten mich wie jedes Mal, die Freiheit, die Weite auskostend, auf dem Fahrrad von der Keitumer Wattenseite zum offenen Meer hin nach Westerland. Der erste Blick auf das Meer, die Brandung, diese Mischung aus Ohren -, Nasen -und Augenschmaus, ja, das aktivierte alle vorhandenen zigfachen Bilder, Gefühle und ließ Glück, dankbares nur - da - sein, in mich einströmen.
     Hart an der flutenden Wasserkante entlang ging ich nun gen Wenningstedt und weiter hin zum Roten Kliff bei Kampen. gleißend liegt das Sonnenlicht auf dem Meer, die Brandung singt das Willkommenslied und alles ist wieder genauso herrlich, wie es meine Erinnerung erwartungsfroh gespeichert hatte, ich war da, endlich wieder da und glücklich.
     Das erneute Erkunden der Insel, das Wiedererkennen des altvertrauten und das Staunen über die wenigen Veränderungen, das wird nun der Inhalt meiner Tage hier sein. Nahe liegend als erstes Ziel ist die St. Severin Kirche in Keitum, die stolz und trutzig auf dem höchsten Punkt des Sylter Geestkerns errichtet, weithin sichtbar seit 1240 über Land und Meer und die historischen Abläufe zu ihren Füßen wacht. Ihr Turm diente als Seezeichen und bis 1803 auch als Gefängnis. Sie überlebte die Pest von 1350, die die ganze Insel entvölkert hatte und auch die »Maandränke« 1354 und die große Flut von 1362. Immer wieder wurde die Insel fast entvölkert, doch St. Severin blieb bestehen. Grabplatten mit poetischen Aufschriften legen Zeugnis ab, wie die Menschen zu diesen Zeiten, sich vertrauensvoll in Gottes Hand, auch beim Sterben, begaben.

»Fahr denn wohl du Trauter unserer Seele,
eingewiegt von unseren Segnungen!
Schlummre ruhig in der Grabeshöhle,
schlummre ruhig bis auf Wiedersehen!
Bis auf diesen leichenvollen Hügeln,
die allmächtige Posaune klingt
und nach aufgerissenen Todesriegeln,
Jesus Christus diese Leichen in Bewegung bringt.«
1807 Jens Hayken

Ja, auch das ist eine Spur, ein Fußabdruck von einem Menschen, der lange vor mir lebte, dessen Schicksal mit Meer und Wind, mit Sylt verbunden war.

Rund um die Keitumer Kirche befinden sich zudem die alten Götterhügel, die die Sylter zu Ehren von Weda und seiner Frau Freia, für Thor und Hel aufgeschüttet haben. Die Friesen dachten sich Weda als den obersten Kriegsgott, der den Seefahrern nicht nur Glück in den Schlachten, sondern auch guten Wind auf ihren Fahrten geben sollte. Auch die Krähen waren heilige, dem Weda geweihte Vögel, denn sie kehrten mit den nordfriesischen Seefahrern im Herbst heim. Man opferte ihnen im Winter die Reste der Mahlzeiten und im Frühjahr zogen die Wedansvögel mit den Seefahrern wieder von Sylt weg. Die Friesen schworen sogar »Bi den Raawen« und hatten eine Krähe in ihrer Flagge. Ich bin wohl auch so ein Wedavogel, der immer wiederkehrt.
Die Autorin vor dem Seelenloch     Ich besuchte, bei dieser meiner Spurensuche auch noch sehr viel ältere Zeugnisse auf der Insel, so u.a. den Denghoog, ein Steinzeitgrab, das etwa vor 5000 Jahren mit 12 stehenden Steinen und einem mächtigen Deckenstein angelegt wurde. Durch das »Seelenloch« im Süden fällt zur Wintersonnenwende die Sonne auf den »Spiegelstein« im Norden. Das Seelenloch sagt man, wurde angelegt, damit die Seelen der Verstorbenen immer mal in die Sonne hinausgehen könnten, denn es soll ihnen ja gut gehen. Ich finde es immer wieder sehr lohnend, mich durch das obere Einstiegsloch in dieses Steingrab zu schlängeln und den Raum auf mich wirken zu lassen. Hier wurde geopfert, hier war eine Thingstätte, auch Zuflucht vor Feinden bot der Hoog den Menschen. Außerdem war er auch Begräbnisstätte. Durch den Kriechgang des Seelenloches kam ich dann wieder hinaus an das Sonnenlicht - ja, das muss den Seelen auch gefallen haben.
     Die Zeiten auf der Insel waren hart und schwer und da die Männer und Söhne zum Walfang unterwegs waren und nur die Frauen, Kinder und alten Männer auf der Insel zurückblieben, gab es viel Hunger und Not. Da errichtete man die Vogelkojen. Das ist ein künstlicher Süßwasserteich mit vier spitz zulaufenden Enden in denen Fangreusen angebracht sind. Zahme, an den Flügeln gestutzte Enten lockten die Flugenten zur Rast auf diesem schönen Gewässer ein, dann wurden die Enten in die Fangröhren getrieben und am Ende saß einer, der ihnen den Hals umdrehte. So hatten die Frauen auch dann, wenn die Männer vom Walfang nicht mehr zurückkamen, wenn sie auf irgendeinem der Friedhöfe »Für Heimatlose« auf den Inseln begraben worden waren, zu Essen und Daunen und Tauschware für andere notwendige Dinge des Lebens. Die Vogelkoje bei Kampen ist zur Besichtigung restauriert und ich konnte mir einen guten Eindruck machen.
     Ein ganz anderes Zeichen aus frühester Vorzeit ist die Wanderdüne bei List, ein weißes, hochaufragendes Sandfeld auf das ich trotz des Verbotes, ich muss es leider zugeben, nicht widerstehen konnte hinaufzusteigen. Wie gut, dass mir trotz dieser Freveltat niemand ein Stück Tau mit einem Knoten in den Weg gelegt hat, denn von alters her wurden diese in böser Absicht in den Weg gelegt und als Hexenknoten bezeichnet. Man darf diese nicht anrühren, muss ihnen vielmehr aus dem Weg gehen, wenn man sie gewahr wird. »Leg Knoten hin vor jedermann! Bring jeden, nur dich nicht zu Fall!« lautete eine alte Hexenregel.
Düne     Dort Oben, auf der Wanderdüne in all dem Sand unter dem Wind der das Dünengras streichelte und wiegte, die jagenden Wolken beobachtend, die ihre hungrigen Schatten über den Sand warfen, nur um dem erneuten blauen Himmel wieder Platz zu machen, da kam ich mir vor, wie der kleine weiße Stein in meiner Jackentasche. Mit dem Lärchengesang, der sich auf den Wind aufschwingt ahne ich etwas vom Einssein des Menschen mit »Bruder Wind und Mutter Erde«, etwas von der Leichtigkeit des Seins, ein Glücksgefühl, wie am ersten Schöpfungstag, kommt über mich. Ich denke daran, wie bei Sturm die Düne ins »Laufen« kommt und über Wiesen und Weiden stiebt und das fruchtbare Land und oft sogar Häuser, wie Alt List, unter dem Sand begrub. Großartigkeit ist eben nicht nur still, ruhig und friedlich.
     Am Ende dieser herrlichen Sylttage spüre ich wieder, im Ferienquartier angelangt, wie diese herrlichen Urlaubstag langsam ausklingen, wie sich die Haut langsam wieder daran gewöhnt, dass kein starker Wind sie mehr umspielt und wie ich insgesamt zu einer herrlichen Ruhe komme.
     Ja ich bin wieder meinen Spuren gefolgt, die ich Mensch unsichtbar auf der Insel hinterlassen habe und erneut überkommt mich die Wehmut des Abschiedes, denn wieder gilt es viele Monate die Sehnsucht zu nähren, bis zu einem erneuten Wiedersehen, einer erneuten Spurensuche, bis ich mit den Wedavögeln wiederkehre.

Heidrun Schaller

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