Winterglut
von Andreas Glaser
 

Der Winter zaubert weiße Wunder
Und wie ein Traum erscheint die Welt:
Sehnsuchtsvoll versunken, verborgen unter
Einem mächtigen Mantel, märchenhaft entstellt.

Umfangen von diesem kalten Reich,
Entfacht in einem Einsamen ein Feuer.

Und brennende Worte der Liebe begleiten
Das Durcheinander, gleich fallendem Schnee,
Vergangener wie vergehender Zeiten...

Im Kamin brannte nur noch ein schwaches Feuer. Er saß in einem Sessel vor dem Fenster und blickte hinaus: Wieder schneite es. Die Welt war hinter einem undurchdringlichen, weißen Schleier verborgen. Dennoch blickte er, ein bereits alter Mann mit weißen Haaren, angestrengt und geradezu suchend... Es hatte unaufhörlich geschneit, als er ihr damals begegnet war: -

Wie der Mond, das kalte Feuer der Nacht,
 Im nebeldurchwobenem Dunkel plötzlich
Hinter zerreißenden Wolken
 Unerwartet
 Hervortritt,
 So tauchtest du gewaltig
Eine wundersame und tief ergreifende Begegnung!

Neben mich, über mich
In mein Leben.

An einem kleinen und abgelegenen Bahnhof, irgendwo zwischen Zuhause und dem Wohnort seiner Großeltern hatte er gewartet: ein junger Mann, der über die Weihnachtsfeiertage einen Besuch macht. Der Zug für die Weiterreise hatte wegen des starken Schneefalls Verspätung. Seltsamerweise kreuzten sich an diesem kleinen Bahnhof die Züge zweier verschiedener Richtungen und eine wenig von ihm entfernt warteten noch weitere Reisende auf ihren Zug.
     Ihm war schrecklich kalt. Das Bahnhofsgebäude , bloß ein Schaffnerhäuschen und Lagerhallen, bot keine Möglichkeit zu unterstellen; ständig musste er den Schnee, dem er also frei ausgeliefert war von Mantel und Hosen klopfen. Seine Finger waren von der Kälte gerötet und die Haarsträhnen, die unter der Kapuze seines halblangen Mantels hervor fielen, waren weiß von gefrorenem Schnee. Hinter ihm, auf der anderen Seite des Bahnhofsgebäudes lag die kleine Ortschaft, deren Namen der Bahnhof trug und das häufige Läuten der Kirchenglocken erinnerte an die ruhige Besinnlichkeit der Feiertage. - Vor ihm aber, jenseits der Geleise erstreckte sich freie Landschaft in natürlicher Ungezähmtheit: Hohe Tannen ragten unter schwerer Schneelast empor und verdichteten sich bereits in naher Ferne zu einem Wald. Ein wenig  weiter deuteten sich bewaldete Hügel an, aber durch das Schneetreiben war die Landschaft bereits in dieser Ferne nur noch schemenhaft zu erkennen.
     Er blickte die Gleise entlang: auch sie verloren sich rasch im Weiß des fallenden Schnees; alles wirkte seltsam grenzenlos. Der junge Mann, einsam auf dem fremden Bahnhof, fühlte sich verloren und ziellos: ein Wartender, dem das Erwartete abhanden kommt, verschlungen vom grenzenlosen Weiß des Schnees.
     Auf seinem braun-ledernem Reisekoffer hatte sich bereits eine beachtliche Schneeschicht angesammelt, als sich auf dem Bahnhof sogar noch weitere Reisende einfanden, die wohl in der Ortschaft eingekehrt waren oder Station gemacht hatten. Ihr gesammeltes Eintreffen machte ihm Hoffnung auf die baldige Ankunft seines Zuges. Ein Neuankömmling trat nicht weit von ihm entfernt an den Bahnsteig: es war eine junge Dame, fast noch ein Mädchen, mit einer Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Er blickte zu ihr hinüber, als sie kurz den Kopf in seine Richtung wendete... Der alte Mann in seinem Sessel musste lächeln - ein traurig-sehnsuchtsvolles Lächeln. Er entspannte sich und seine Augen verloren sich im fallenden Schnee vor seinem Fenster. - Welches Bild! Welches uralte und märchenhafte Bild tat sich ihm auf! Wie oft war er nächtelang wach gelegen: schwindelnden Kopfes, unfähig zu begreifen! Wieviel Gedichte und Briefe hatte er geschrieben, bei geröteten Augen und vor Aufregung zitternden Händen -

Nicht die zarteste Rose blüht
Lieblich
Wie das Süß deiner Wangen,
Nicht der strahlendste Himmel leuchtet
Sanft
Wie das Blau deiner Augen
Und noch der königlichste Samt wird spröde
Vor der Anmut deiner Lippen.-

Aber wie sehr er die Worte auch bemüht hatte, es war ihm unmöglich gewesen, jenen Zauber zu fassen. Und wie erst hätte der junge Mann in jenem kurzen, überwältigenden Augenblick fassen oder auch nur ahnen können, welches Feuer der Funken jenes Bildes in ihm entfachen sollte.
     Sie stand da, die Schneeflocken fielen auf ihre helle Haut, auf die rosigen Wangen und schmolzen auf ihrem Gesicht. In der Kälte bildete ihr Atem weiße Wölkchen; blonde Haarsträhnen fielen unter ihrer Mütze hervor und um ihr Gesicht. Sie lächelte, wie sich ihre Blicke trafen: Nur ein kurzer Augenblick, ein einziger Augenblick!
     Geradezu erschreckt wendet er sich ab, blickt in die endlose Schneelandschaft. Schon ist ein Zug zu hören, das schrille Geräusch bremsender Metallräder. Der Schaffner tritt aus seinem Häuschen, kündigt den Zug an: es ist die andere Richtung. Die junge Dame nimmt ihr Gepäck. Der Zug fährt ein. Wie betäubt sieht er sie einsteigen. Noch einmal wendet sie kurz den Kopf: Dieser liebliche Anblick! Er ergreift seine Koffer: Es ist sein Zug, seine Richtung. Eilig steigt er hinter ihr ein. -
     „Ich liebe dich, ich liebe dich!“, murmelte der alte Mann leise, dann immer lauter: „Ich liebe dich! Oh mein Gott, wie sehr ich dich liebe!“- Wie ein Schlafwandler, abwesenden Blickes, den Mund leicht geöffnet, war er ihr gefolgt - in ein kleines gemütliches Abteil mit hölzern verkleideten Wänden und rot gepolsterten Sitzen. Die Vorhänge waren aufgezogen und mit einer Kordel gebunden; mildes Tageslicht fiel durch das Fenster - Wie ihr Gesicht in diesem Licht strahlte! Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Sie versuchte ihr Gepäck auf der Ablage zu verstauen. Er hätte ihr helfen können, er hätte ihr helfen sollen! Aber noch wie er umständlich und unentschlossen im Abteil steht, bietet sich ihr ein älterer Herr an, der einzige Reisende, der sich bereits in dem Abteil befunden hat, und hilft ihr auf die höflichste Weise. Beschämt schaut er weg - Ich unglückseliger Tor! Verzeih mir, bitte verzeih mir!  - und verstaut seinen eigenen Koffer.
     Es war angenehm warm. Sie setzte sich ans Fenster gegenüber dem älteren Herrn. Er wusste nicht warum, aber er ließ neben diesem noch einen weiteren Platz frei - Verzeih mir, bitte verzeih mir! -, sodass er in der anderen Ecke des Abteils saß.
     Endlich zog sie die Wollmütze vom Kopf. Blonde Haare fielen in leichten Wellen um ihr Gesicht und über ihre Schulter. Sie öffnete den Mantel, der ihren zierlichen Körper noch immer umhüllte und lehnte ihren Kopf an das Fenster. Leise und regelmäßig waren die Fahrgeräusche des Zuges zu hören. - Wie verträumt war ihr Blick!
     Vor dem Fenster flog die Winterlandschaft vorbei. Es schneite nur noch sehr schwach und immer wieder riss die Wolkendecke auf, sodass riesige Wolkenschatten neben hell erleuchteten, weiß glitzernden Flächen vorbeizogen: Ein heller Hügel ganz in der Ferne, dann wieder helle Tannen an den Geleisen bei dunklem Horizont; ein gefrorener See nur halb erleuchtet, dunkle Hänge von hellen Streifen durchzogen und am Himmel türmten sich die Wolken im Wechselspiel des Lichts: Es war ein herrlicher Anblick!
     Eine Zeit lang verlief die Strecke entlang eines Flusses im Tal, dann auf halber Höhe an einem Hang mit gutem Ausblick und über mehrere Brücken: weite Felder mit vereinzelten, blätterlosen Bäumen, felsige Hänge, tiefe Flusstäler... und dazwischen immer wieder - verträumte blaue Augen, eine helle Haarsträhne, ein zarter Körper umhüllt von weich fallenden Kleidern, ein im milden Licht leuchtendes Gesicht - Es war eine märchenhafte Reise.
     In einem Bahnhofscafé schrieb er seinen ersten Liebesbrief:

Liebe Unbekannte, liebste wunderschöne Fremde,
mein Stern, mein Licht, mein Feuer in der Dunkelheit,

noch haben wir kein Wort gewechselt,
noch kenne ich nicht einmal deinen Namen,
und doch liebe ich dich -
unbändig,
wie eine gewaltige Lawine donnernden Schnees -
verzehrend,
wie die tanzenden Flammen wild lodernden Feuers.

Liebe Unbekannte, schöne, wunderschöne Fremde,
mein Traum, mein Leben, meine unsterbliche Geliebte,
ohne dich bin ich ein kaltes Stück Asche,
zerbrochenes Kristall.
Wenn du nicht da bist,
verschlingt mich die Sehnsucht,
ich vergehe vor Schmerz,

Und brennende Worte der Liebe zerreißen
gewaltig und zügellos mein Herz,
da ich sah, was deine Blicke verheißen...

Das Café, in dem er seinen Brief schrieb, lag am Bahnhof, auf dem er sie verloren hatte. Er war mit ihr ausgestiegen, wollte ihr helfen ihr Gepäck zu tragen, wollte sie nach ihrem Namen fragen, wollte sie einladen, wollte ihr die Hand geben, wollte sie umarmen, wollte sie küssen... Aber er folgte ihr nur zögerlich, unentschlossen, unsicheren Schrittes; sie ging so schnell, so zielstrebig; alles hatte sich so plötzlich, so unerwartet ereignet, er wusste gar nicht was ihm geschehen war, sein ganzes Leben hatte nicht gereicht es zu verstehen. Wie hätte er auch nur ahnen können...
     Auf einmal war sie verschwunden; er war ihr zu langsam, zu zögerlich gefolgt; er hatte sie aus den Augen verloren, ihre Gestalt war vom Weiß des fallenden Schnees verschlungen.
     Verzweifelt suchte er sie, ließ seine Koffer stehen und lief wie wild auf dem Bahnhof umher. Passanten blickten sich nach ihm um, denn er begann laut zu rufen. Er rannte durch unbekannte Gassen, fragte fremde Menschen und folgte Fußspuren im Schnee. Seine Hände waren zu Fäusten verkrampft und begannen zu bluten, weil ihm die eigenen Nägel ins Fleisch schnitten; Tränen rannen aus seinen Augen. Nach stundenlanger vergeblicher Suche setzte er sich, vollkommen verzweifelt und abgekämpft, in das Café am Bahnhof. Er wählte einen abgelegenen Tisch in der Ecke und bestellte heißen Tee mit Rum. Immer wieder schlug er die Hände übers Gesicht, die anderen Gäste, die ihn wegen seines aufgewühlten Äußeren anschauten, beachtete er nicht: Er wusste weder ein noch aus.
     Irgendwann begann er zu schreiben, es war der einzige Ausweg, sein erster Liebesbrief:

Bitte verzeihe mir, dass ich dir nicht mit deinem Gepäck geholfen habe,
     Bitte verzeihe mir, dass ich dich nicht nach deinem Namen gefragt habe,
dass ich an eine Unbekannte schreiben muss,
Bitte verzeihe mir, dass ich mich nicht neben dich gesetzt habe,
mit dir gesprochen habe, dich kennen gelernt habe...
Ich stand unter dem Banne deines Zaubers, ich war betäubt von deiner Schönheit,
in meinen eigenen Zweifeln gefangen, wie ein Schneeblinder
hilflos
vor dem herrlichen Sonnenuntergang in einer märchenhaften Winterlandschaft.
Was würde ich dafür geben, was würde ich dafür geben,
könnte ich die Zeit zurückdrehen, was alles würde ich geben!

Er konnte den Brief nicht abschicken. Zuhause verstaute er ihn in einer schwarzen Kiste; sie war viel zu groß für einen Brief, aber sie füllte sich in vielen Jahren: Briefe, Gedichte und Tagebücher; Worte der Sehnsucht, der vergeblichen Liebe, der unsagbaren Reue. Es war der einzige Ausweg.
     Die Kiste stand geöffnet neben dem Sessel des alten Mannes -

Ich halte es nicht länger aus! Es erdrückt mich, es verschlingt mich, es verzehrt mich, wie ein nimmersattes Feuer! Ich unglückseliger Tor! Verzeih mir, bitte verzeih mir! -

und die Kiste war leer. Der alte Mann schaute müde. Im Kamin lag die kalte Asche von Papier. Von dem Feuer zeugte nur noch ein eine schwache Glut.

Und brennende Worte der Liebe begleiten
das drunter und drüber, auf und ab, das fort und das wieder,
vergangener wie vergehender Zeiten.

© 1999 by Andreas Glaser. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


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