Susanna Haeberlen: Sommertraum

Er fällt auf. Dabei könnte sie nicht sagen, was an ihm auffällt. Ein Mann, der sein Fahrrad an einem der Bügel neben dem Kiosk anschließt. Gut, da sind die vollen Fahrradtaschen, das Zelt auf dem Gepäckträger, die lange Radlerhose, die pinkfarbene Regenjacke, die er jetzt auszieht und in einer seiner  Taschen verstaut. Ein Radwanderer eben. In der Tat etwas ungewöhnlich, da es noch zu früh im Jahr für Radwanderer ist und da  Hannover nicht an einem der großen Radwanderwege wie dem Weserradweg oder dem Donauradweg liegt. Aber das ist es nicht, denkt sie. Radwanderer sind ungewöhnlich, aber noch nie hat einer ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie dieser hier. Vielleicht ist es die Ruhe, mit der er alles tut: Sein Fahrrad anschließen, die Jacke einpacken, einen Rucksack aus der Tasche holen, einen Blick zu dem blauen Himmel mit den Schäfchenwolken werfen.  Solch eine Ruhe ist selten unter den Menschen in der Innenstadt von Hannover.
     Sie sitzt an einem der Tische vor dem Cafe Kröpcke, es ist ihre Mittagspause, sie trinkt eine Tasse Kaffee und  versucht, die Zeitung zu lesen, aber ihre Konzentration reicht nur für die Aus-aller-Welt-Seite. Immer wieder sieht sie auf, beobachtet die Menschen um sich herum, wie den Radwanderer vorhin. Ist er noch in Sichtweite? fragt sie sich, als sie wieder aufsieht. Er ist es, nur wenige Meter von ihr entfernt, er kommt direkt auf sie zu, fragt sie, ob er sich zu ihr setzen kann.
     »Bitte«, sagt sie, und er setzt sich ihr gegenüber hin. Sie
     versucht, sich wieder auf ihre Zeitung zu konzentrieren, aber sie weiß schon, dass das nichts werden wird: Nicht dass er sie aktiv in ihrer Lektüre stören würde; er hat große Apfelsaftschorle bestellt und betrachtet seine Fahrradkarte, ohne sie zu beachten -- sie selbst ist fasziniert von ihm, schaut immer wieder zu ihm auf, um zu sehen, was er macht.
     Als sie wieder einmal aufschaut, spricht er sie an: »Ich suche den Leine-Radweg. Ich bin von ihm abgekommen, um mir das Stadtzentrum anzusehen, und jetzt weiß ich nicht, wie ich zu ihm zurückfinden soll.«
     »Ich fahre selbst nicht Fahrrad«, antwortet sie. »Aber wenn Sie mir die Karte zeigen, kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen.«
     Sie beugen sich zu zweit über die Karte. »Wahrscheinlich ist es am einfachsten, wenn Sie den Schildern in Richtung Maschsee und Ricklinger Teiche folgen«, sagt sie. »Dann müssten sie auf die Leine und den Leine-Radweg stoßen.«
     »Danke«, antwortet er.
     Da er das Gespräch eröffnet hat, wagt sie nun, es fortzusetzen, indem sie ihrerseits eine Frage stellt: »Machen Sie Urlaub? Woher kommen Sie?«
     »Heute komme ich aus Schwarmstedt«, antwortet er. »Etwa sechzig Kilometer nördlich von hier.«
     Typisch Mann, denkt sie. Sechzig Kilometer, und es ist noch nicht einmal halb eins.
     »Und ich reise zwar, fährt er fort, »aber ich mache keinen
     Urlaub. Keinen Urlaub von der Arbeit.«
     »Besteht Ihre Arbeit in Reisen, oder arbeiten sie nicht?«
     »Beides«, antwortet er.
     »Und wovon leben Sie?«
     Er lacht. »Von Essen und Trinken, wie alle Menschen.«
     Das kennt sie, und sie kennt auch die nächste Frage:
     »Und wodurch erhalten Sie das?«
     »Durch Tausch«, antwortet er.
     Jetzt lacht sie. »Und was tauschen Sie? Doch keine Vögel?«
     »Nein«, antwortet er. »Ich tausche Musik.« Er holt einen
     schmalen Kasten aus seinem Rucksack, öffnet ihn, da liegt, in drei Teile zerlegt, silbern glänzend, eine Querflöte. Er nimmt sie heraus, setzt sie zusammen. »Mein Mund ist noch voller Speichel«, sagt er, sich für eventuelles schlechtes Spiel entschuldigend, noch bevor er die Flöte ansetzt. Wie stark ist nicht dein Zauberton... Nur ein paar Takte, dann setzt er die Flöte wieder ab, da alle Menschen sich nach ihm umdrehen.
     »Hier endet es«, sagt er. »Es gibt keine Prinzessin, die
     befreit werden muss, keinen Prinzen, der sich ständig retten
     lässt, keinen Papageno, der gezähmt wird. Ich tausche keine Vögel. Nur Musik. Und Träume.«
     »Sie tauschen Träume«, sagt sie.
     »Ja. Aber leider sind sie immer weniger beliebt.«
     »Aber wenn Sie Träume tauschen, dann haben Sie doch bald selbst keine mehr.«
     »Es wachsen neue nach«, erwidert er. »Ich muss nur die Quelle hüten, sodass sie nicht versiegt.«
     »Und was machen Sie im Winter, wenn Sie nicht zelten können?«
     »Mich gibt es nur im Sommer.«
     »Ich könnte wohl ein paar Träume brauchen«, sagt sie. »Aber
     heute habe ich keine Zeit. Meine Mittagspause ist gleich zu Ende.«
     Sie winkt der Bedienung und bittet um die Rechnung. »Zusammen oder getrennt?« fragt die Bedienung.
     »Zusammen«, antwortet sie und bezahlt.
     »Danke«, sagt der Mann.
     »Ich habe heute keine Zeit für Träume«, sagt sie. »Aber ich
     würde gerne anrufen, wenn ich mehr Zeit habe.«
     »Mein Zelt hat keinen Telefonanschluss«, antwortet er. »Und ein Handy kann ich mir nicht leisten. Aber du kannst mir deine Telefonnummer geben.«
     »Hier«, sagt sie, schiebt ihm einen Zettel mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer zu und sagt dann, das Du erwidernd: »Du kannst anrufen, wann immer du hier bist und etwas brauchst.«
     »Jetzt bin ich in Hannover«, erwidert er.
     »Willst du heute Abend kommen? Zum Abendessen? Ab halb sechs bin ich zuhause. Aber du musst vor halb sieben anrufen, denn dann kommt mein Mann.«
     »Ich werde anrufen«, sagt er.
     »Ich weiß noch nicht, ob es gehen wird«, sagt sie. »Vielleicht wird mein Mann dagegen sein. Ruf einfach an.«
     »Ich werde anrufen«, wiederholt er, steht auf und verabschiedet sich, indem er ihr die Hand gibt.
     »Und vergiss nicht, einen Traum mitzubringen.«
     »Ich werde es nicht vergessen.«
     Er geht, sie sieht auf die Uhr am Kröpcke und stellt fest, dass sie ihre Mittagspause um fünf Minuten überzogen hat.

© 2006 by Susanna Haeberlen. Unerlaubte Vervielfältigung oder
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