Eine Begegnung

von Annette Kühn

Ende der Achtzigerjahre hieß die berühmte Berliner U-Bahnlinie, die damals zwischen dem Schlesischen Tor und Ruhleben verkehrte, LINIE 1.
     Wer das Gripstheater kennt, weiß, dass dieser Linie sogar ein eigenes Musical gewidmet wurde. Man kann dort alle mehr oder weniger erfreulichen Details des Berliner U-Bahnlebens bewundern. Und wer einmal nach Berlin kommt, kann dies noch heute tun. Nur heißt die Linie jetzt LINIE 2. Ansonsten hat sich nicht viel geändert.
     Hier ist die Geschichte:

Blutbad auf der Linie 1!17-jähriges Mädchen aufgeschlitzt

An einem kalten Vormittag im Herbst machte ich mich auf den Weg in Richtung Kurfürstendamm, um ein neues Buch für meine Sammlung zu erstehen. So wurde ich wieder einmal zum Fahrgast auf der besagten Linie.
     Der Hinweg verlief ohne besondere Zwischenfälle, laute Walkmanhörer wurden mit bösen Blicken belegt, Touristen diskutierten lautstark über dem bunten Gewirr verschiedener U-Bahnlinien auf den vor ihnen liegenden Plänen, einige Fahrgäste verströmten mehr oder weniger seltsame Gerüche der letzten Nacht, das Übliche eben.
     Die Begegnung, die ich bis heute nicht vergessen sollte, meine Begegnung mit ihm, sollte sich erst auf der Rückfahrt ereignen.
     Mein Besuch in einem der größten Buchläden der Stadt war erfolgreich gewesen, stolz hielt ich meinen neuen Bildband in den Händen. Ich war völlig in das Betrachten der einzelnen Fotos vertieft, als ich plötzlich ein lautes Schnaufen und Rascheln vernahm.
     Da war er.
     Umständlich platzierte er die vielen Tüten um sich herum.
     Sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht war zum größten Teil unter einem Vollbart verborgen, der struppig und buschig bis auf seine Brust reichte. Das Haar, welches offensichtlich seit langer Zeit nicht mehr mit Wasser in Berührung gekommen war, hing in langen, filzigen Strähnen herab. Seine Kleidung war schmutzig und grau, die Schuhe hatten etliche Kilometer an seinen Füßen zugebracht.
     So saß er mir gegenüber, mit dem Ordnen seiner vielen Tüten und Taschen beschäftigt.
     Ich wandte mich wieder meinem Buch zu.
     Er begann, sein Tun mit halblauten Kommentaren zu begleiten, steigerte sich dabei aber in der Lautstärke, bis ich schließlich meinen Kopf hob, um ihn anzusehen.
     Er schien mich gar nicht wahrzunehmen, denn er war zu sehr damit beschäftigt, das Messer aus seiner Tasche zu holen.
     Ein Messer mit einer ungefähr 20 cm langen, gezackten Klinge.
     In dem Moment, als er es hervorzog, verstummten die Gespräche der anderen Fahrgäste um uns herum.
     Alle starrten den Mann an, es war, als ob die Zeit für eine kleine Ewigkeit stehen blieb.
     Mein Herz begann zu rasen. Im Geiste sah ich schon die Schlagzeilen vor mir :
     »Blutbad auf der Linie 1!17-jähriges Mädchen aufgeschlitzt« oder etwas in der Art. Unserem größten Boulevardblatt würde schon etwas passendes einfallen.
     Meine Knie wurden weich und in nur wenigen Sekunden raste eine ganze Flut von Gedanken durch meinen Kopf : Was sollte ich tun? Aufspringen? Weglaufen? Aber wohin? In einer fahrenden U-Bahn kommt man bekanntermaßen nicht sehr weit...Meinen Bildband als Schutzschild benutzen? Oder als Waffe? Vielleicht einfach nur ohnmächtig werden?
     Lange musste ich nicht überlegen, denn der Mann kramte weiter in den Tüten und zog schließlich aus einer derselben einen halben Laib Brot hervor.
     Ich starrte ihn an, konnte kein Auge von ihm lassen, als er mit einem zufriedenen Schnaufen begann, sich mit diesem enormen Messer eine Scheibe abzusäbeln.
     Ich biss mir auf die Lippen, in meinem Bauch machte die Angst einem Gefühl Platz, laut loslachen zu wollen.
     Unter den Blicken der immer noch stummen Fahrgäste holte der Mann erneut etwas aus seinen Habseligkeiten hervor, diesmal war es eine goldglänzende Konserve.
     Er öffnete sie und sofort verbreitete sich ein intensiver Fischgeruch in dem Abteil. In aller Seelenruhe holte er ein Stück, ich glaube es war Hering, aus der Dose und legte es sich auf die eben abgeschnittene Scheibe Brot.
     Er biss von seiner Schnitte ab und kaute eine Weile, bis ihm plötzlich bewusst wurde, dass alle Fahrgäste ihn stumm und teilweise mit offenem Mund anstarrten.
     »Wat is?« schimpfte er, kleine Fisch- und Brotstücke in die Gegend spuckend, »Wat isn los?« Er wandte sich einigen an der Tür stehenden Personen zu und rief : »Habt ihr noch nie een fressen sehn oder wat?«
     In diesem Moment lachte ich los.
     Kein »Blutbad«, keine Schlagzeilen am nächsten Tag.
     Er wollte nur in aller Ruhe an einem warmen Ort frühstücken, und das war für ihn die U-Bahn.
     Er sah mich lachen, murmelte irgendetwas unverständliches und aß weiter.
     Einige Leute stiegen aus. Ob sie an ihr Ziel gelangt waren oder einfach nur dem mittlerweile penetranten Fischgeruch entkommen wollten, war schwer zu sagen. Ich blieb sitzen und beobachtete jetzt, wie der Mann nach seiner Mahlzeit alle Utensilien, samt dem Messer, wieder in den Taschen verstaute.
     Dann holte er ein kleines Döschen hervor, steckte sich einige Pillen in den Mund, schluckte, ohne etwas dazu zu trinken. Ich fragte mich, was er da schluckte, vielleicht Schmerzmittel? Uppers, Downers, ein Trip?
     Plötzlich trafen sich unsere Blicke. Er sah mir genau in die Augen. Für einige Sekunden schauten wir uns einfach nur an. Dann zuckte er die Schultern : »Muss och mal sein, verstehste?«
     Sein Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Muss och mal sein.«
     Ich nickte und war auf eine seltsame Art berührt.
     Vor wenigen Minuten hatte der Obdachlose noch eine potenzielle Bedrohung für mich dargestellt, und nun?
     Dann ging alles sehr schnell.
     Der Zug hielt am Kottbusser Damm, der heutigen Schönleinstraße, und er wollte raus. In Windeseile raffte er seine Sachen zusammen und stand auf.
     »Tschüß, mach's gut.« hörte ich mich selber sagen.
     »Du och, wa?« kam als Antwort von Richtung Tür, bevor er mit seinen vielen Taschen und Tüten beladen auf dem Bahnhof verschwand.
     Die U-Bahn fuhr weiter.
     Zu Hause angekommen las ich noch ein wenig in meinem neuen Buch, bevor ich es zu den anderen in Regal stellte. Ich weiß nicht mehr genau, was ich an diesem Tag noch alles gemacht habe, wahrscheinlich war es ein schöner Tag für mich und ich habe mich abends wie immer in mein warmes, weiches Bett gelegt.
     Manchmal frage ich mich, ob er inzwischen gestorben ist.
     Besonders dann, wenn ich den alten Bildband betrachte.

© 1999 by Annette Kühn. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


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