»Wovon lebt die Netzliteratur?« Der Vortrag von Wolfgang Tischer auf dem Symposium des Pegasus98 Am 22. November 1998 wurden die Preise beim dritten Internet-Wettbewerb von Zeit, IBM, ARD online und Radio Bremen vergeben. Eingeladen waren laut Ausschreibung alle, die »die Sprache mit den ästhetischen und technischen Mitteln des Internet verknüpfen, um neue Ausdrucksformen zu entwickeln.« Sehr geehrte Damen und Herren, bei sehr existenziellen Fragen, wie die, über die ich hier sprechen möchte, nämlich »Wovon lebt die Netzliteratur?«, kommt man ohne historische Betrachtungen fast nicht aus. Gemessen an der Geschichte der Menschheit, ist die des Internet jedoch relativ kurz und somit auch meine geschichtliche Betrachtung. Ich beschränke sie auf die bloße Feststellung, dass seit den Anfängen, als das Internet noch gar nicht Internet hieß, die geschriebene Sprache in diesem Medium eine maßgebliche Rolle spielt. Und auch heute noch ist eMail der am meisten genutzte Dienst des Netzes und auch der verhältnismäßig neue Dienst des World Wide Web, der Anfang der Neunzigerjahre hinzukam und dem wir die Popularität des Netzes zu verdanken haben, wird - trotz aller bunten Bilder und multimedialer Ansätze - vom geschriebenen Wort dominiert. Da drängt sich natürlich fast von selbst die Frage auf, inwieweit das Netz auch für die künstlerische Gestaltung von Sprache genutzt wird, also für das, was man im engeren Sinne der Definition als »Literatur« bezeichnet - als »Belletristik« oder »Dichtung«. Ebenso ist die Frage interessant, ob das Internet gar eigene sprachliche Kunstformen ermöglicht oder geschaffen hat? Schaut man sich einmal im Word Wide Web um, so sieht man dort sehr Vertrautes. Das was z.B. auch überwiegend im Literatur-Café an Gedichten und Geschichten zu finden ist, ist keine Netzliteratur. Es ist Literatur im Netz, die das Internet lediglich als gute und preiswerte Methode nutzt, die Werke zu verbreiten und zugänglich zu machen. Hier hat das Netz in der Tat eine neue und sehr direkte Möglichkeit der Distribution geschaffen, die Lektorate und Redaktionen umgeht. Dies hat natürlich Auswirkungen auf Inhalte und Qualität, die aber hier nicht das Thema sein sollen. Den größten Teil der Literatur also, die Sie im Netz finden, können Sie sich ausdrucken. Außer zur Verbreitung hat das Netz hier keine Funktion. Wie sieht es nun aber mit Literaturformen aus, die die gleichen Techniken einsetzen, wie sie auch im Internet verwendet werden? Hier muss natürlich HTML erwähnt werden, die Seitenbeschreibungssprache des WWW, die im Internet wie bereits eingangs erwähnt sehr spät, nämlich Anfang der Neunzigerjahre, Einzug gehalten hat und die, auch das erwähnte ich bereits, das Internet erst für die breite Masse zugänglich gemacht hat. Der so genannte Hypertext erlaubt es, Textstellen miteinander zu verknüpfen, Sprünge im linearen Verlauf eines Textes einzubauen, bei einem Klick auf bestimmte Wörter andere Blickwinkel einzunehmen oder auf Assoziationen oder Parallelhandlungen zu verweisen. Im Gegensatz zum Buch kann der lineare Verlauf einer Geschichte also aufgehoben werden. Hinzu kommt auch, dass der Leser selbst entscheidet, welchen der Verknüpfungen oder Links er folgen möchte. Freilich wurden auch in der herkömmlichen gedruckten Literatur solche Experimente versucht, aber dennoch schafft die Technik hier weitaus bessere Möglichkeiten. Allein Netzliteratur ist auch das nicht, denn auch die Hypertexte nutzen das Internet fast ausschließlich als Distributionsmedium. Sind alle notwendigen Dateien einmal auf einen Computer geladen, so kann dieser vom Netz getrennt werden und man kann sich die meisten dieser Werke auch offline betrachten. Auch der immer wieder gern zitierte Klassiker der Hypertext-Literatur, »Afternoon« von Michael Joyce, entstand bereits Jahre bevor das World Wide Web erfunden wurde. Schauen wir uns die Beiträge an, die in diesem Jahr zum Pegasus eingereicht wurden, so sind fast alle keine Netzkunst im Sinne dieser Definition, da sie, außer zur Distribution, das Netz nicht erfordern. Ja, selbst die Preisträger der Jahre 1996 und 1997 sind nichts weiter als Literatur oder allgemeiner: Kunst im Netz. Sie setzen zwar die Technik des Hypertextes ein, aber wenn Sie sich diese Texte z.B. im letzten Jahr auf Ihren Rechner geladen haben, dann erfordern Sie das Internet nicht mehr, sie können ohne Einbußen auch offline betrachtet werden, sehen heute noch so aus, wie im letzen Jahr. Zu diesem Umstand beigetragen haben in den beiden letzten Jahren natürlich auch die Ausschreibungsmodalitäten, die z.B. externe Links untersagt haben. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich, dass mit dieser Einteilung natürlich keinerlei inhaltlich-qualitative Wertung verbunden ist auch das wäre ein Punkt für eine gesonderte Betrachtung, auf den ich hier nicht eingehe. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass man sich auch von neueren Techniken, die aufgrund bandbreitenschonender Übertragungsformate im Internet verwendet werden bzw. dafür entwickelt wurden wie z.B. Flash, nicht täuschen lassen sollte. Auch diese Beiträge, die sich im wesentlichen dadurch auszeichnen, dass hier die Texte ein- und ausgeblendet werden, sich drehen oder scrollen und das ganze oft mit Tönen unterlegt ist, sind keine Netzliteratur. So neu und ungewöhnlich dies derzeit für das Medium sein mag auch diese Kunstformen nutzen das Netz nur zur Distribution, ist also keine Netzkunst oder Netzliteratur im Sinne der Definition. Wovon lebt also die Netzkunst bzw. Netzliteratur? Definieren wir sie zuvor noch einmal: Netzliteratur (Netzkunst) ist eine Kunstform, die unabhängig von den eingesetzten Techniken, die Möglichkeiten und Mittel des Internet nutzt und dieses nicht ausschließlich zur Distribution verwendet. Welche Mittel und Möglichkeiten sind es also nun, die neue Formen ermöglichen könnten (Sie bemerken sicher meine vorsichtige Ausdrucksweise)?
Beim Einsatz dieser Mittel müssen natürlich die technischen Gegebenheiten berücksichtigt werden, ebenso wie eine mediengerechte Aufbereitung. So eignen sich z.B. längere Texte nicht unbedingt für das Lesen am Bildschirm, sondern man wird hier eher zum Ausdruck neigen. Ebenfalls ist die »Erlebniszeit« eher kurz, verglichen mit einem Buch. Mit dem Online-Projekt »Inselflucht«, welches im Oktober 1998 durchgeführt wurde, haben wir vom Literatur-Café versucht, alle genannten Möglichkeiten einzusetzen. Natürlich gibt es im Netz auch andere Projekte, die eines oder mehrere der genannten Elemente einsetzen, doch erlaubt mir das Projekt »Inselflucht«, Ihnen auch das zu berichten, was hinter den Kulissen geschah. Wir begannen mit einem in der Literatur nicht neuen Thema: Die Hauptperson verreiste aus Liebeskummer. Ungewöhnlich mag höchstens das Ziel erscheinen, denn es war die Nordseeinsel Langeoog. Ansonsten war Fort- und Ausgang der Geschichte völlig offen. Gleichzeitig mit der Hauptperson reiste auch ich auf die Insel, während mein Koautor, Gero von Büttner, eher redaktionelle Aufgaben übernahm. Der genaue Fahrplan mit den Platzreservierungen war im Internet abrufbar und wir forderten die Leute auf, mich real zu treffen, was auch tatsächlich geschah. Die Personen und auch sonstige tatsächliche Ereignisse fanden sich dann Stunden später in der Geschichte wieder, die zweimal täglich fortgeschrieben wurde und sofort im Netz abrufbar war. Aktuelle Digitalbilder lockerten den Text zusätzlich auf. Außerdem forderten wir all die Leser auf, die mich natürlich nicht real treffen konnte, über eine Art Gästebuch Kommentare zur Geschichte abzugeben und Vorschläge für den weiteren Fortgang zu machen. Auch diese Vorschläge wurden eingebaut und so entstand eine Geschichte, bei der wir Autoren den roten Faden legten, die jedoch mannigfaltig beeinflusst werden konnte und die in dieser Form sicherlich nur durch das Medium Internet möglich war. Eine der interessantesten Erfahrungen für uns Autoren war das Spiel zwischen Fiktion und Realität. So reiste z.B. die Hauptfigur unserer Geschichte überraschend früher ab und an uns Autoren kamen besorgte Anfragen, warum wir das Projekt früher beenden würden und ob irgendetwas vorgefallen sei, was uns hierzu veranlasste. Dabei war dies nur Fiktion und Teil des Projektes. Es muss auch betont werden, dass das Projekt »Inselflucht« nur in den fünf Tagen im Oktober echte Netzliteratur war. Mit dem Abschluss des Textes ist die Geschichte statisch und nicht mehr als eine Dokumentation ihrer selbst geworden, die auch als solche gesehen werden muss und nicht als statische Literatur betrachtet und beurteilt werden kann. Nicht ganz zu unrecht wurde uns der Vorwurf gemacht, die Geschichte habe eher die Qualität eines Groschenromanes. Und so seufzte schließlich auch unsere Romanfigur: »Scheiße, ich komme mir vor wie die Hauptperson in einem Trivialroman«. Wir haben vieles gefunden, was noch zu verbessern wäre, aber schon jetzt steht fest, dass wir ein ähnliches Projekt wieder durchführen werden, denn eines zeigten uns die Reaktionen und die während des Projektes täglich gestiegenen Zugriffszahlen: Diese Form der Netzliteratur fand Interesse und wurde gelesen! Diese Aussage mag etwas merkwürdig klingen, aber sie ist nicht unwesentlich, wenn Netzliteratur mehr sein soll, als eine intellektuelle Spielwiese für eine Hand voll Leute, die gegenseitig ihre Projekte diskutieren und beurteilen oder gar darüber nur theoretisieren. Wovon lebt die Netzliteratur? Natürlich auch von ihren Lesern! Allerdings haben wir im Internet die merkwürdige Situation, dass selbst wenn wir ein erfolgreiches Projekt voraussetzen die Leser nicht diejenigen sind, die die Projekte und letztendlich auch die Autoren bezahlen. Die Struktur des Internet ist auf eine freie Verfügbarkeit hin ausgelegt und es ist illusorisch, dies allein den fehlenden technischen Möglichkeiten zuzuschreiben, wie dies zum Teil geschieht. Ohne auf die Gründe hierfür einzugehen, sei festgestellt, dass die Nutzer eher bereit sind, für Daten und Auskünfte zu zahlen, als für so etwas »nutzloses« wie Netzliteratur oder Literatur im Netz. Somit kommen wir zum letzten und im gewissen Sinne existenziellen Aspekt der Frage »Wovon lebt die Netzliteratur?«, die da genauer lautet: »Wovon lebt die Netzliteratin oder der Netzliterat?«, und die Antwort kann hier nur sarkastisch lauten: »Nicht von der Netzliteratur!« Viele Projekte gibt es nur, weil sie vom Engagement und der Initiative von einzelnen oder Gruppen, ja, vom Spaß an der Sache getragen werden. Anderes zu erwarten wäre allerdings illusorisch, denn warum soll die Kunst im Netz anderen Gesetzen gehorchen, als außerhalb des Netzes. Soll Kunst finanziert werden, so ist dies größtenteils durch Sponsoring oder Mezänatentum denkbar - auch im Netz. Allerdings kam man sich im Netz noch vor kurzem wie ein Wilder im Urwald vor, den man mit Glasperlen zu locken versucht. Selbst große Konzerne, die einerseits mehrstellige Millionenbeträge in das derzeit ebenfalls noch nicht Gewinn bringende Geschäft mit Online-Buchhandlungen stecken und andererseits auch bei den Netzliteraten und Literaten im Netz nach Content anfragen, weil sie merken, dass es nicht unbedingt die Zahl der angeblich lieferbaren Titel ist, die die Leute in den Shop lockt, verkünden generös, dass man als Gegenleistung selbstverständlich einen Gegenlink setzen werde. Zum Glück beginnt sich hier allerdings die Situation zu wandeln. Am Schluss meines Vortrags möchte ich mich nicht anbiedern, aber meine letzte Antwort auf die Frage »Wovon lebt die Netzliteratur?« lautet ganz ehrlich: Auch durch Veranstaltungen wie diese und durch Wettbewerbe wie den Pegasus. Auch wenn es aus den unterschiedlichsten Gründen immer wieder Kritik am Wettbewerb gab, freut es mich, dass die Initiatoren in ihrem Engagement nicht nachgelassen haben, und ich wünsche mir, dass dieses auch im nächsten Jahr anhält. Vielen Dank! 21.11.1998 |