Foto von Ulrich Struve Steppenluft
Notizen am Rande - Buchbesprechungen von Ulrich Struve

In seinen autobiografischen Romanen Der blaue Himmel, Die graue Erde und Der weiße Berg erzählt Galsan Tschinag von Kindheit und Jugend eines mongolischen Tuwa-Nomaden im Altai-Gebirge. Er beschreibt das Aufwachsen Dshurukwaas in der Sippe, umgeben von den das Leben bestimmenden Herden, eingebettet in Jahrhunderte alte Traditionen, in dichter, bildkräftiger Sprache, die zum Innehalten nötigt.

Für den Lebensweg Dshurukwaas sind zwei Momente zentral: Der Einbruch der Moderne in Form des Sowjetimperiums, das auch in der entlegenen Mongolei seine Herrschaftsansprüche geltend macht; und die Erkenntnis, dass der Junge zum Schamanen berufen ist. »Ich bin ein Stein, der bewegt worden ist«, schreibt er, »unmöglich wird sein für mich, zurückzukehren dorthin, wo ich hingefallen war, als es anfing, mich zu geben«. Dshurukwaas Krisen werden von den wundersamsten Fieberträumen begleitet.

Als der kluge Junge zur Schule in die ferne Kreisstadt geschickt wird, sind Konflikte zwischen traditionsgebundenem Geisterglauben, schamanistischen Heilverfahren und den örtlichen Chefideologen unausweichlich. Mit dem Rückhalt der Familie findet Dshurukwaa seinen Weg, Tradition und Moderne zu verbinden.

Galsan Tschinag, eigentlich Irgit Schynykbai-oglu Dshurukwaa, studierte in den Sechzigerjahren in Leipzig Germanistik und hat sich das Deutsche als Literatursprache erkoren. Seine Werke vermitteln Ausschnitte aus Alltagsgeschichte und Vorstellungswelt der Tuwa in Beobachtungen und Geschichten. Dshurukwaas Freund Gök etwa beantwortet eine Frage mit einer Geschichte:

Ich frage ihn, weshalb er mir damals sein Versteck nicht verraten hat, wo ich doch sein Freund bin.
     »Mein Urgroßvater, der Vater von meiner Mutter, hatte einen flatternden weißen Bart, der ihm bis zum Gürtel reichte«, beginnt er zu erzählen. »Er wurde mit jedem verlebten Jahr kleiner, wie wir heute größer werden, und am Ende wurde er neunundneunzig Jahre alt, und da wurde er so klein wie ein zehnjähriges Kind. Da sagte er, nun sei es Zeit für ihn heimzugehen, und darauf tat er es auch. Aber bevor er heimging, brachte er mir einen Sommer lang bei, wie man Geschichten erzählt. Dabei brachte er mir manchmal auch andere Dinge bei, und einmal erzählte er, dass ein jeder Mensch sein kleines Geheimnis haben müsse - ein Mensch ohne Geheimnisse sei wie ein Flussbett ohne Wasser oder wie ein Ofen ohne Feuer!«

Auch Tschinag, der mit seinen Romanen und Interviews um Verständnis für die Welt der Tuwa-Nomaden wirbt, tut dies poetisch und mit Pathos, doch bleibt das Geheimnis gewahrt. Einem Hauch karger Steppenluft gleich wehen seine Bildungsromane in die deutsche Gegenwartsliteratur hinein.

Ulrich Struve

Galsan Tschinag, Der blaue Himmel: Roman (zuerst 1994). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997. Tb., 177 Seiten, 15,90 DM/8,13 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-518-39220-4.

Galsan Tschinag, Die graue Erde: Roman (zuerst 1999). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001. Tb., 16,90 DM/8,64 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-518-39696-X.

Galsan Tschinag, Der weiße Berg: Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000. Gebunden, 289 Seiten, 39,80 DM/20,35 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-458-17032-4.

Ich habe eine fremde Sprache gewählt: Ausländische Schriftsteller schreiben deutsch, hrsg. Lerke von Saalfeld. Gerlingen: Bleicher, 1999. Geb., 274 S., 42 DM/21,47 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN: 3-88350-617-6. - Enthält neben einem interessanten Interview mit Galsan Tschinag Geschräche mit und Texte von Rafik Shami, Ota Filip, Yoko Tawada und sechs weiteren Autoren.


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