Foto von Ulrich Struve Bekanntschaft mit Tante Jolesch
Notizen am Rande - Buchbesprechungen von Ulrich Struve

Nach einigen Jahren der Abstinenz, war ich im Dezember wieder einmal bei den Wiener Verwandten meiner werten Gattin zu Besuch. Eines nasskalten Abends saßen wir alle beisammen, Cousine Christa sorgte dafür, dass am Tisch kein Mangel herrschte an Räucherlachs und Schampus, und das Gespräch drehte sich genüsslich um Tratsch. Wer mit wem, und was es denn so Neues gibt.
     Da kommt von der Tante Helga unvermittelt die Bemerkung, »Ja, wie die Tante Jolesch sagen würde, ,Was ein Mann schöner ist wie ein Aff, das ist ein Luxus'«. Vom Wahrheitsgehalt der Feststellung mal ganz abgesehen, frag' ich mich, »Tante Jolesch?  Nie gehört...« Da gibt's wohl noch geheimnisumwobene Verwandte, die man als Angeheirateter erst nach Jahrzehnten der Familienzugehörigkeit vorgestellt bekommt! Zwei Tage später lüftet die Tante Helga das Geheimnis, als sie zum Abschied ein hübsch verpacktes Exemplar von Friedrich Torbergs Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten überreicht.
     Torbergs Tante Jolesch ist eine brilliant geschriebene Sammlung von Anekdoten aus der Welt des Wiener und Prager Judentums, ein Buch der Wehmut, weil die darin beschriebene Welt durch die Nazis zunichte gemacht worden ist. Aber kein bitteres Buch, weil Torberg sich im Gedenken an längst verblichene Freunde und einst stadtbekannte Sonderlinge das Lächeln bewahrt hat.
     Neben der lebensklugen, den Neffen gegenüber allerdings arg ruppigen Tante Jolesch begegnet man in Torbergs Erinnerungen zahlreichen bekannten wie unbekannten Zeitgenossen und ihren mehr oder minder liebenswerten Eigenheiten. Der »rasende Reporter« Egon Erwin Kisch, Karl Kraus, Leo Perutz, Alfred Polgar und Egon Friedell treten auf. Doch auch gelungene Momente kleiner Advokaten und feister Zugehfrauen werden als Fußnoten zur offiziellen Historie der Stadt vor dem Vergessen bewahrt.
     Dabei beleuchtet Torberg en passant die zentralen Institutionen des Gesellschaftslebens:  die Promenade am Graben mit ihren hochdiplomatischen Feinheiten des Grüßens oder Nichtgrüßens, Zuerstgrüßens oder Abwartens, die Sommerfrische in Karlsbad und Ischl, die Damenmode, das Wetteifern der Zeitungen und - natürlich - das Kaffeehaus. In Anekdoten aus dem Demel, Café Central und Café de'l Europe erweist sich Torberg als weiser Humorist, dessen sanfter Tonfall über die Spitzen gegen unsere Eitelkeit hinweghilft, sodass man, wenn sich das Buch dem Ende zuneigt, ihm gerne noch länger Gehör schenken würde.

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Hier einige Kostproben:

»Lang vorher kursierte im ,Prager Tagblatt' eine Kisch-Anekdote, die erbaulichen Aufschluss über seine Eitelkeit gibt. Anlässlich seines 50. Geburtstags wollte man ihm [...] ein ausnahmsweise uneingeschränktes Lob zollen, jenseits aller politischen und journalistischen Meinungsverschiedenheiten und unter weitgehender Berücksichtigung seiner notorisch hohen Ansprüche. Es wurde also ein Huldigungsartikel verfasst, der von Superlativen nur so strotzte und sich zu dem Gipfel verstieg, Egon Erwin Kisch den ,Homer der Reportage' zu nennen. Höher, so glaubte man, ging's nicht mehr.
     Es war ein Irrglaube. Wenige Stunden nach Erscheinen des Artikels kam Kisch in die Redaktion gestürmt, direkt ins Zimmer des von Jugend auf mit ihm befreundeten Chefs vom Dienst [...] und knallte sein Exemplar des ,Prager Tagblatts' wütend auf den Tisch:
     ,Also bitte!' schnaubte er. ,Das sind meine Freunde! Vergleichen mich mit einem blinden Goj, von dem man nicht einmal weiß, ob er gelebt hat...'«

»Eine andre zu dieser Schicht [des jüdischen Großbürgertums] gehörige Dame, die ihren Sommeraufenthalt zwischen Nizza und Karlsbad zu teilen pflegte, hatte vom teuersten Prager Pelzsalon einen prächtigen Weißfuchsmantel geliefert bekommen, den sie - wie eine ihrer Freundinnen neidvoll vermutete - sicherlich nach Nizza mitnehmen würde.
     ,Nach Nizza?' entgegnete die Schmöckin. ,Den heb ich mir für Karlsbad auf. In Nizza kennt mich doch niemand!«

»Die Prägnanz seiner Definitionen, die Zielsicherheit, mit der [Franz Molnar] aus unvermuteter Richtung ins Schwarze traf, grenzte bisweilen ans Unheimliche. Von einem Journalisten, der mit der Wahrheit besonders wüst und willkürlich umsprang, sagte er: ,Ein unverlässlicher Mensch. Er lügt so, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist.'«

Ulrich Struve

Friedrich Torberg. Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. München: DTV, 1977. 249 Seiten. 14,90 DM/7,62 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-423-01266-8.


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