Grafit & Das Literatur-Café präsentieren: Finale in Holzwickede Grafit
Eine Kriminalerzählung von Nessa Altura.

Holzminden, Holzkirchen, ja, sogar das kleine Holzgerlingen im Schwäbischen waren dem Hauptkommissar vertraute Ortsnamen gewesen, aber Holzwickede? Den Weg nach Holzwickede hatte er erst im Straßenatlas suchen müssen, als er damals, umgezogen nach Dortmund und frisch befördert, von seinem neuen Einsatzort erfuhr. Holzwickede am Hellweg. Für ihn sollte es ein langer dunkler Weg werden - der Weg, der in Holzwickede sein Ziel finden würde.

Der Hauptkommissar saß an seinem Schreibtisch, den man ihm für einige Monate in der idyllischen Polizeistation in Holzwickede eingerichtet hatte und öffnete das Lederfutteral. Er betrachtete geistesabwesend den Lauf seiner Dienstpistole. Das Ding sah so harmlos aus. Er dachte an den Frühling vor zwei Jahren: gelber Löwenzahn und weiße Pusteblumen hatten gleichzeitig auf den Wiesen gestanden, blaues Vergissmeinnicht und blasses Wiesenschaumkraut. Die Jugend von Holzwickede war in die »Schöne Flöte«, das Freizeitbad gezogen, die Familien in den Emscherpark, die Wanderfreudigen über den Truppenübungsplatz und die Älteren zu den Vereinsfesten.

Der Mann hatte bei der Vernehmung Dinge über den Tathergang gewusst, die eigentlich nur der Mörder wissen konnte. Der Mörder oder Totschläger, die Opfer und natürlich die Mitglieder der Soko »Alter Terminal«. Der Hauptkommissar schloss die Augen und ließ die Wiese gegenüber des neuen Dortmunder Flughafens in seinem Innern emporwachsen. Die grünen Gräser, die Unebenheiten, das Unkraut, die Maulwurfshügel, der Bärlauch, das Blut. Der alte Ledersessel, den jemand wild im Grünen entsorgt hatte. Die Blutlache. Die Blutspritzer. Die Spezialisten konnten aus dem Verlauf der Spritzer vieles über den Tathergang lesen: Die Wucht, mit der die Hiebe geführt wurden, die Händigkeit des Täters, die Größe des Täters, die Abfolge der Armbewegungen, die Abwehrreaktionen der Opfer. Es musste ein verzweifelter, ungleicher Kampf gewesen sein. Er brauchte nicht darüber nachzudenken. Er hatte schon tausendmal darüber nachgedacht. Alles passte. Da gab es kein Geheimnis. Keinen vernünftigen Zweifel.

Jeder hier hatte die Zwillinge von Holzwickede gekannt. Es waren zwei kleine Buben, zehn Jahre alt, Sebastian und Sascha. Schmale kleine Bürschchen, die zu früh auf diese Welt gekommen waren und sich nie darin wirklich hatten etablieren können. Die mit ihren knulligen Mountainbikes bei schönem Wetter in der ganzen Stadt unterwegs gewesen waren. Mal hier, mal dort, immer öfter in der Nähe des alten Terminals. Sie hatten keine Freundschaften geschlossen, so hatten es die Eltern, die Lehrer und die Nachbarn in ihren Zeugenaussagen zu Protokoll gegeben. Der Hauptkommissar hatte die Protokolle wieder und wieder studiert. Zwei einsame kleine sommersprossige Existenzen, die alle gesehen und gekannt hatten, mit denen aber niemand wirklich Kontakt aufgenommen hatte, weil sie es nicht hatten haben wollen. Sie waren sich selbst genug gewesen, hatten untereinander in dieser seltsamen Zwillingssprache kommuniziert, die sich – das hatte er in kinderpsychologischen Fachschriften nachgelesen – manchmal entwickelt, wenn zwei so ganz und gar aufeinander angewiesen sind. Das erklärte, weshalb sich so heftig füreinander gewehrt haben mussten. Für ihr Alter waren sie klein und schmächtig gewesen. Und entwicklungsmäßig weit zurück, hatte die Klassenlehrerin gesagt, deshalb seien sie bei den Mitschülern nicht beliebt gewesen und dadurch um so tiefer in diese exklusive Zweisamkeit gerutscht. Die Klassenlehrerin war eine vernünftige Person.

Ob sie gehänselt worden seien?

»Ja«, hatte sie zu Protokoll gegeben, »manchmal. Nicht schlimm, es hat keinen Grund gegeben, einzugreifen. Das kommt vor. Die Zwillinge habe es immer verstanden, sich zu entziehen. Eine Art Selbstschutz, wenn Sie verstehen, Herr Kommissar, was ich meine.«

Selbstschutz, ja. Sebastian und Sascha hatten ihrerseits ein Ventil gefunden, die eingesteckten Schmähungen weiterzureichen, doch, so musste es wohl gewesen sein. Erst nach einigem Zögern hatte die Mutter davon gesprochen. Der Kommissar verstand gut, wie schwer ihr das gefallen sein musste angesichts des grässlichen Verbrechens, das an ihren Kindern geschehen war und hatte so behutsam, wie er es vermochte, wieder und wieder danach gefragt.

Sebastian und Sascha hatten mit Tieren gespielt.

»Kaninchen von der Böschung an der Chaussee...«, hatte die Mutter unter Tränen erzählt. »Maulwürfe. Frösche. Einmal eine Maus.«

Er nahm den Ordner mit den Vernehmungsprotokollen und schlug ihn auf. Zum hundersten Mal. Es war nicht schön, was er das las. Nicht schön, aber vielleicht verständlich. Ein totgeschlagener Maulwurf. Ein zerschnittener Frosch. Ein angezündetes Kaninchen. Ein platt getretener Sperling. Und schließlich eine Katze, die verschwunden war.

Die ganze Soko »Alter Terminal« hatte nach der Katze gesucht. Tigerlilly, die geliebte Katze des Mannes vom Sicherheitsdienst des Flughafens. Verschwunden am Tag des Zwillingsmordes. Bis heute nicht aufgetaucht. Ebensowenig wie die Tatwaffe. Sie hatten den Täter und das Motiv. Tatwaffe und Tigerlilly fehlten. Sie hatten erst die Umgebung um die neuen Industriebauten des Eco Ports, um das futuristische Porschezentrum, den gläsernen Smart Turm und die noch brachliegenden Wiesen darum herum gefilzt, dann in immer weiteren Kreisen um Holzwickede in allen Gehölzen und Gewässern gesucht; sie hatten weder Zeit noch Kosten gespart. Allerlei Witze über sich ergehen lassen müssen. Vorübergehend war die Soko »Alter Terminal« auf über dreißig Personen angeschwollen. Sein Fall in Hozwickede: der grausame Messermord an den zehnjährigen Zwillingen Sascha und Sebastian. Die Jungen hatten auf dem Bauch im Gras neben dem alten Sessel gelegen, als ob sie schliefen inmitten des Blutes, das an den Grashalmen klebte. Erst als sie sie herumgedreht hatten, war zu sehen gewesen, was geschehen war. Der Hauptkommissar hatte selbst einen Sohn im ähnlichen Alter, Florian. Nur so konnte er sich später, in den Monaten und Monaten danach, erklären, weshalb sich immer wieder das Gesicht der fremden Toten – es war ja ein- und dasselbe Gesicht bei eineiigen Zwillingen - über dasjenige seines Sohnes schob. Egal, ob Florian grinste, tobte oder nachdachte ... immer wuchsen ihm seither diese papierdünnen grauen Lider, diese wächserne Kühle, diese unbegreifliche Entrückung der Zwillingsleichen zu. Ihre Gesichter waren unbeschädigt geblieben, das wenigstens.

Der Hauptkommissar war der Leiter der Soko »Alter Terminal«, die den Tod der Jungen aufklären sollte. Der Hauptkommissar hatte schon mehrmals Tote gesehen. Auch Kinder. Das war es also nicht. Der Kommissar kannte den Namen des Täters. Wusste, wo er zu finden gewesen war. Meist bei den Fußballfreunden in Hoppy´s Treff am verkehrsreichen Straßeneck mitten im Zentrum von Holzwickede. Das war es also auch nicht.

Der Hauptkommissar platzierte die Sig-Sauer auf dem Obduktionsbericht, den er aus dem Ordner genommen und neben die Vernehmungsprotokolle gelegt hatte. Die Dienstwaffe sollte eigentlich einmal wieder ge pflegt werden. Routine – er dachte kurz an die wogenden strahlend gelben Rapsfelder, die ihm im vorvergangenen Frühling zum ersten Mal in seinem Leben so richtig aufgefallen waren. Damals, als sie die Zwillingsleichen gefunden hatten, waren weiße weiche Blütenbällchen wie Schnee über die Landschaft zwischen der Stadt und den neuen Industriegebäuden getrieben worden – das war letztes Jahr so gewesen und würde auch dieses Jahr wieder so sein. Ob aus seinem Sohn Florian auch einmal ein Polizist werden würde? Er hoffte es nicht. Der Beruf war eine furchtbare Bürde. Verbrechen aufzuklären war schön und befriedigend; es half der Welt, im Lot zu bleiben. Verbrechen, die aufgeklärt waren, aber nicht zu Ende gebracht werden konnten, weil der letzte Beweis fehlte, waren unerträglich. Es war nicht Rache, was ihn bewegte, er hatte viel darüber nachgedacht. Es war die Sühne, die fehlte. So lange eine Tat nicht gesühnt war, war die Welt nicht wieder in Ordnung – so lange lebte man wie unter einer schwarzen Kapuze. Eine Kapuze, die die Ärzte Depression nannten, aber das war nur ein Wort und bedeutete nichts. Schließlich war der Gemütszustand, der ihm zu schaffen machte, nicht grundlos.

Und dann hatten sie hinter dem Motiv noch ein zweites gefunden.

»Haben Sie keine Kinder?«, hatte der Hauptkommissar die Ehefrau des Tatverdächtigen gefragt.

»Nein. Obwohl ...«.

»Ja? Obwohl?«

»Obwohl wir eines hätten haben können, damals vor fünfzehn Jahren. Ich hatte eine Frühgeburt, ein Mädchen. Es wog nur eintausendfünfhundert Gramm. Mareike. Damals war mein Mann am Boden zerstört. Schon fünf Jahre später hätte man sie durchbringen können mit den modernen Methoden der Medizin. Die haben sich unglaublich fortentwickelt in den letzten Jahren. Brutkästen und so weiter. Damals habe ich ihm die Tigerlilly geschenkt, damit er etwas ...«, sie zerknüllte still ihr Tempotaschentuch,«... zum Liebhaben hat.«

Schon fünf Jahre später, hatte sie gesagt – da waren die Zwillinge geboren worden. Er hatte seine Schlüsse gezogen, ohne darüber zu sprechen. Es war ein Motiv, das man nicht mit dem Verstand, sondern instinktiv aus dem Bauch heraus begriff. Der Hauptkommissar fuhr mit dem Zeigefinger über die Form des Laufes. Ein altmodisches, aber präzises Gerät. Keine schlechte Waffe. Verlässlich. Die vier Polizisten vom Bezirksdienst, die ihn so unermüdlich mit ihrer Ortskenntnis und dem ihnen von der Holzwickeder Bevölkerung entgegengebrachten Vertrauen unterstützt hatten, spotteten manchmal gutartig über sie.

Sie hatten den Mann vom Sicherheitsdienst des Flughafens noch am gleichen Abend in seiner Wohnung verhaftet, weil er durch das panische Suchen nach seiner Katze Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. In Hoppy´s Fußballveteranentreff, in dem sich die schwarz-gelben Borussen und die Freunde des wackeren HSV und die Anhänger des SV Opherdicke Gesprächsgefechte lieferten, hatte er auffällig verzweifelt nach seiner Tigerlilly gefragt. Schon bei seiner ersten Vernehmung hatte er von dem Bärlauch gesprochen, den sie nach der Obduktion unverdaut in den Mägen der Buben gefunden hatten. Niemand sonst als er hatte davon gewusst; sie mussten das Gewürzkraut unmittelbar vor der Tat noch auf der Wiese vor dem alten Terminal gepflückt und gegessen haben. Der Geschmack von Bärlauch war dem Hauptkommissar bis dahin unbekannt gewesen. Er schob die Waffe weg und öffnete den Obduktionsbericht, ließ seine Augen über die grausigen Details wandern. So oft gelesen, dass sie nicht mehr schmerzten, sondern Alltag waren. Er glaubte, den leichten Knoblauchgeschmack von Bärlauch auf seiner Zunge zu spüren.

Weil er auf dem Flughafen arbeitete, von wo aus man sich – bei über einer Million Flugpassagieren und über vierzig Zielhäfen - leicht irgendwohin hätte absetzen können, war der Tatverdächtige sofort in Untersuchungshaft gewandert, und der Hauptkommissar war sich ganz sicher gewesen, dass dies ein Fall war, der praktisch schon aufgeklärt war. Sie mussten nur noch die Tatwaffe finden und ein Geständnis bekommen, dann hätte die Gerechtigkeit – oder was davon auf dieser Welt überhaupt möglich war – ihren Lauf nehmen können.

Und dann hatten sie auch noch eine zusätzliche DNA-Spur entdeckt. Unter den vielen Katzenhaaren, die auf Saschas und Sebastians Kleidern gewesen waren, waren auch fremde Speichelspuren gewesen. Die Katzenhaare waren mit jenen, die sie in der Wohnung des Mannes überall sichergestellt hatten, identisch. Sie stammten von der verschwundenen Tigerlilly. Der Hauptkommissar hatte daraufhin zuhause in Dortmund eine ganze Flasche Barolo allein ausgetrunken und am nächsten Tag einen bleischweren Kopf gehabt.

Der Mann hatte nicht gestanden. Sie hatten trotz sorgfältigster Suche das Tatmesser nicht gefunden, wohl aber einen Franzosen, der ein wertvolles Keramikmesser japanischer Provenienz, das mit den Schnittverletzungen zusammenpasste, beim Flughafencheck hatte abgeben müssen. Jean Jacques Martin aus Hamburg, Koch, hatte einen Umschlag mit seiner Adresse beschriftet, fünf Euro gezückt und den Umschlag samt Messer und Geld dem Angestellten des Sicherheitsdienstes übergeben, weil ihm die Zeit fehlte, selbst damit zum Informationsschalter zu gehen. Von dort hätte man, so war das üblich auf dem Dortmunder Flughafen, das Päckchen zur Post gebracht. Der Umschlag mit dem Messer war am Infoschalter nie angekommen. Der Tatverdächtige bestritt, das Messer in Empfang genommen zu haben, obwohl Zeugen dies bestätigten. Die Soko hatte sich das gleiche Messer in einer Großhandlung für Hotelbedarf besorgt, unter der hilfreichen fernmündlichen Beratung von Martin. Es hätte durchaus die Tatwaffe sein können.

Er legte die Sig-Sauer mitten auf den aufgeschlagenen Obduktionsbericht. Das matte Schwarz der Waffe bedeckte höchstens die Hälfte des eng beschriebenen Blattes. So viele Worte. Er entlud die Waffe, legte das Magazin daneben. Löste das Griff- und das Verschlussstück. Nahm den Docht, zog ihn sorgfältig durch den Lauf und reinigte Züge und Felder. Er lächelte, während er sanft mit dem Stab hantierte. Zum Glück hatte man die kleine Walther, die Damenpistole, schon seit vielen Jahren abgeschafft. Sie hatte in seiner großen Hand einfach lächerlich ausgesehen. Mit der 9mm Bürste beseitigte er methodisch alle Schmauchspuren, die vom letzten Übungsschießen zurückgeblieben sein mochten. Mit Ballisto ölte er ganz leicht die metallenen Verschlussteile, damit kein Flugrost entstehen konnte. Sacht fuhr er mit dem Zeigefinger über die glatten Metallflächen – Metall war ein wunderbarer Werkstoff, das hatte er immer gefunden. Das Plastik der Griffschalen war dagegen eine Sünde. Sein Vater hatte noch im Walzwerk gearbeitet. Wie stolz war er gewesen, als sein Sohn zum Hauptkommissar ernannt worden war. Draußen blühte jetzt schon wieder der Löwenzahn. In den nächsten Tagen würden auch die weißen Bällchen wieder herumwirbeln, die seine Frau niesen machten. Florian und er lachten dann immer.

Die Speichelspuren waren das letzte Glied in ihrer Beweiskette. Wenn sie von dem Täter stammten, war der Fall gelöst. Auch ohne Geständnis – die Indizien hätten reichen müssen. Der Staatsanwalt hätte anklagen können. In Holzwickede war bis dahin noch nie ein Mord passiert. Das hatten ihm die Bezirksbeamten erzählt - wenn man von den üblichen Bahndammleichen einmal absah. Der ehrgeizige kommunale Entwicklungsplan der »entbehrlichen Bahnflächen« in innerstädtischer Lage würde auch damit über kurz oder lang ein Ende machen; der Hinterhof des Bahngeländes an der Stehfenstraße war wirklich nicht schön. Der Hauptkommissar hätte eine Runde in Hoppy´s Treff ausgegeben, wenn der Laborbericht den Verdacht der Soko bestätigt hätte. Auf den ersten und schnellst möglich aufgeklärten Mord in der Stadt. Keine gute Idee, das sah er jetzt. Auf Mord und Totschlag trank man nicht.

Der Laborbericht war negativ. Es war wie eine Faust in die Magengrube gewesen. Tagelang waren alle Sokomitglieder niedergedrückt. Es war wie immer schwer, sich nach einem solchen Rückschlag wieder an die Arbeit zu machen. Alle hatten das so empfunden. Der Hauptkommissar hatte ihnen einen Ausweg aus dem Dilemma gezeigt, nachdem er lange darüber nachgedacht hatte.

Er schob die Patronen in das Magazin und das Magazin in das Griffstück bis es hörbar einrastete. Mit der Linken zog er den Verschluss nach hinten, mit dem Daumen drückte er den Hebel nach unten. Der Verschluss schnellte nach vorne und nahm eine Patrone mit in den Lauf. Jetzt war die Waffe streifenfertig. Dann spannte er den Hahn nach hinten. Der vergammelte Ledersessel stand noch immer auf der Wiese, auf der Sascha und Sebastian hatten sterben müssen. Er war sogar in der Sendung XY-ungelöst zu sehen gewesen, in der sie um Hilfe bei der Aufklärung gebeten hatten. Alle Spuren waren im Sand verlaufen. Die Sendung hatte nichts gebracht. Die Tigerlilly war nicht gefunden worden, die Tatwaffe nicht, ein anderer Tatverdächtiger nicht. Ein neuer Frühling in Holzwickede war ausgebrochen. Der Verdächtige schwieg eisern; man hatte ihn schließlich nicht länger in Gewahrsam halten können. Er hatte einen guten Verteidiger gewählt, der ihm empfohlen hatte, nichts, aber auch gar nichts mehr auszusagen. Er arbeitete wieder am Flughafen, hatte seinen Reisepass abgegeben und meldete sich täglich auf der Polizeistation, die ohnehin auf seinem Heimweg lag, da er in Rausingen wohnte. Ob der Sessel im Gras noch viele Frühlinge in Holzwickede vor sich hatte?

Und dann hatte der Hauptkommissar einen letzten, vielleicht aus der Verzweiflung geborenen Schritt unternommen, einen Schritt, der ihm heute, ein Jahr danach, nahezu verrückt vorkam.

»Wir machen eine Gen-Analyse von allen Bewohnern Holzwickedes«, hatte er vorgeschlagen.

»Einen Abstrich von allen?«, hatten ihn die vier Bezirkspolizisten ungläubig gefragt.

»Ja. Der Täter kommt aus Holzwickede, da bin ich mir sicher«.

»Unwahrscheinlich«, hatten die Polizisten gesagt, »der Flughafen ... jeder könnte mal eben auf die Wiese ...und dann, ex und hopp ... in die Luft«.

Ex und hopp, nein, in Hoppy´s Treff, da lag die Lösung. Hier, mitten im Herzen der Stadt. Dort, wo der Tatverdächtige sich aufgehalten hatte, wenn er nicht arbeitete oder zuhause bei seiner Frau gewesen war. Der Hauptkommissar hatte gedacht, dass die vier parteiisch waren, begreiflich natürlich, da sie täglich in den friedlichen Straßen der Stadt Streife gingen. Er aber hatte nicht vergessen, was er beim ersten Mal vor der Kneipe gesehen hatte: einen aufgerissenen Altschuhcontainer, aus dem abgetragene Kinderschuhe gequollen waren. Kinderschuhe, die Sebastian und Sascha gepasst hätten. Oder Florian.

Er hatte seine Idee dem Staatsanwalt nahe gebracht und nach langem Zögern hatte der Staatsanwalt die Aktion angeordnet. Eine Aktion, die eine der teuersten in der Polizeigeschichte von ganz Nordrhein-Westfalen gewesen war. Zunächst auf freiwilliger Basis, im Ausnahmefall auf richerliche Anordnung. Die Holzwickerder waren kooperativ gewesen, durchaus, aber der Hauptkommissar ging jetzt nicht mehr, wie zuvor, gerne durch die Stadt. So viele Zungen, die bereitwillig für Abstriche zur Verfügung gestellt worden waren. Die jetzt anderes flüsterten, Worte vom Versagen der Soko, von der Unfähigkeit der Behörden, vom Verdächtigen harmloser Bürger.

Die langwierige Operation hatte nichts erbracht, gar nichts. Er hatte das friedliche Holzwickede zu Unrecht verstört. Das und die Tatsache, dass er so viel öffentliches Geld unnötig aufgewendet hatte – die Steuergroschen einer Bevölkerung, die ohnehin nicht auf Rosen gebettet war, nagte an ihm. Ließ ihn nachts nicht mehr schlafen. Die neuen Industriegebäude am Flughafen Dortmund taten sich schwer in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation. Viele standen auch in diesem Frühling noch immer leer. Leer wie das Kinderzimmer von Sascha und Sebastian mit seinen Stockbetten. Leer wie Tigerlillys Korb. Leer wie die Haftzelle, die auf den Sicherheitsbediensteten wartete, den Täter, der mit niemandem mehr sprach und mit dem auch keiner mehr reden wollte. Der sein Stammlokal mied. Der es vielleicht tatsächlich nicht gewesen war. Obwohl, das glaubte der Hauptkommissar noch immer nicht. Er wusste, dass ... aber was wusste man schon mit allerletzter Sicherheit? Mit allerletzter Sicherheit wusste er nur, dass er versagt hatte. Alle Bemühungen waren umsonst gewesen.

In den Holzwickeder Vorgärten segelten jetzt die Magnolienblütenblätter von den Tulpenbäumen. Bald würden die Azaleen wieder blühen und die Pusteblumen ihre Samenträger versenden. Ob es wohl auch dieses Jahr Bärlauch gab? Man fand ihn jetzt immer häufiger auf den Speisekarten der Restaurants. Er schmeckte dem sanften Knoblaucharoma nach. Gegessen und getrunken hatte er immer gerne. Auch, wenn er jetzt selber kochen musste, weil seine Frau mit Florian die gemeinsame Wohnung verlassen hatte. Sie hatte das Grübeln und Zweifeln, so hatte sie gesagt, dem Jungen nicht länger zumuten wollen. Väter sollten Vorbilder sein.

Man wartete nur noch auf die Eisheiligen, danach würden die Blumentöpfe auf die Terrassen gestellt. Nicht auf seine eigene, seine Frau, eine leidenschaftliche Gärtnerin, hatte sie mitgenommen. Er hob die Sig-Sauer an den Mund, führte sie ein und schloss die Lippen darum. Sanft drückte er den Lauf nach oben an den Gaumen. Zögerte eine Sekunde. Die vier von der Polizeistation würden die Sauerei wegmachen müssen, das tat ihm Leid.

Dann krümmte er den Zeigefinger und zog durch.

Download Download der Erzählung als MP3-Datei.
12,8 MByte/Laufzeit 27:21 Minuten.
Erzählung sofort anhören.
Laufzeit 27:21 Minuten.

Wolfgang TischerDer Vorleser: Wolfgang Tischer
wurde geboren in Schwenningen am Neckar und spielte in zahlreichen Theaterstücken, darunter auch Beckett (»Das letzte Band«) und Albee (»Die Zoogeschichte«). Darüberhinaus trat er jahrelang mit einem eigenen Kabarettprogramm auf. Seit einigen Jahren hat sich Tischer ganz auf die Interpretation von Texten spezialisiert. Tischer liest bei privaten und öffentlichen Veranstaltungen. Wolfgang Tischer ist Inhaber des Literatur-Cafés im Internet. www.vorleser.de

 

 

 

Alle Veröffentlichungs- und Vervielfältigungsrechte an der Erzählung liegen beim Grafit Verlag, Dortmund. Die Hörfassung darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Kommerzielle Nutzung, Aufführung, Sendung oder Weiterverbreitung nur mit Genehmigung des Grafit Verlags und des Literatur-Cafés.

Nessa AlturaDie Autorin: Nessa Altura
Als Silvester 99/00 ein neues Jahrtausend anbrach, fand Nessa Altura, dass es an der Zeit wäre, einmal etwas Neues zu wagen. Sie tauschte ihren Namen mit obigem Pseudonym und verkaufte ihre erste Kurzgeschichte an einen Verlag. Zuvor hatte sie als Reiseberichterstatterin, Gymnasiallehrerin und Familienmanagerin gearbeitet. Seither hat sie zahlreiche Beiträge für Anthologien (Grafit, Scherz, Vertigo, et al) geschrieben und damit etliche Preise gewonnen (2002 Friedrich-Glauser-Preis; 2004 Prosapreis Fürstenwalde; 2004 Nominierung zum Agatha-Christie-Preis; 2005 Krimipreis der Stadt Singen (2. Platz)). www.nessaaltura.de

Cover: Mehr Morde am HellwegDas Buch: Mehr Morde am Hellweg
Die Geschichte »Finale in Holzwickede« wurde erstmals in der Anthologie »Mehr Morde am Hellweg« im Grafit Verlag veröffentlicht. Die Crème de la Crème der deutschen Krimiszene hat sich in diesem Band zum zweiten Mal aufgemacht und ist auf »Mehr Morde am Hellweg« gestoßen, denn Krimifans wissen, dass der »Hellweg«, die alte Heer- und Handelstraße von Dortmund nach Paderborn, ein »Weg zur Hölle« sein kann.

Mehr Morde am Hellweg. Kriminalstories. Taschenbuch. 2004. GRAFIT. ISBN/EAN: 9783894252946

Seitenanfang