Reisetagebuch England - Gero von Büttner berichtet online aus England vom 15. Juni bis zum 5. Juli 1998
 
Die Route
heute

Hay-on-Wye
Rhayader

Freitag, 26. Juni 1998
 

Ortsschild von Hay-on-WyeHeute geht unsere Fahrt in die Bücherstadt Hay-on-Wye. Für die wenigen Meilen bis dorthin benötigen wir über eine Stunde, da der Weg – von Straße kann man nicht sprechen – gerade mal so breit wie ein Auto ist. Hinzu kommt noch, dass er sehr kurvig ist und rechts und links der Fahrbahn gut zwei Meter hohe Hecken wachsen. Die Sicht reicht selten weiter als 15 Meter, und man muss ständig damit rechnen, dass Fahrzeuge entgegenkommen. Wenn man Pech hat, darf man bis zur letzten Ausweichstelle zurücksetzen. Zum Glück kommt nicht allzu viel Gegenverkehr.
     Dann, kurz vor Hay-on-Wye, steigt der Weg an, und wir überqueren die Black Mountains. Hier wachsen nur kleine Farnpflanzen, und zahlreiche Schafe grasen rechts und links der Fahrbahn. Der Blick hinunter ins Tal ist beeindruckend.
     Hay-on-Wye ist in gewisser Weise ein Phänomen. Das kleine Dorf an der Grenze von Wales und England nennt sich selbst »Book Town«. Nicht ohne Grund, gibt es hier doch über 30 antiquarische Buchhandlungen. Diese merkwürdige Entwicklung geht auf einen gewissen Richard Booth zurück. Booth stammt aus der Gegend und beschloss im Jahre 1961, nach seinem Studium in Oxford, hier einen Laden für gebrauchte Bücher zu gründen. Auf diese Idee wären an diesem Ort sicherlich nicht viele gekommen, doch für Booth schien die Lage zwischen England und Wales – weit genug weg von London entfernt – ideal für den internationalen Handel mit antiquarischen Büchern. Außerdem, so verkündet er selbstlos, wollte er auch etwas für die Gegend tun. So erklärte er Hay-on-Wye zur »World Book Town«, und tatsächlich eröffneten hier viele weitere Antiquariate, einige davon wurden von ehemaligen Mitarbeitern Booths gegründet. »Booth Books« ist nach eigenen Aussagen das weltweit größte Antiquariat, welches sich über drei Stockwerke erstreckt. Man hat den Eindruck, als stöbere man auf einem gewaltig großen Dachboden herum, und man fragt sich zweifelsohne auch, wer diese ganzen Bücher kaufen soll. Aber Hay-on-Wye ist der ideale Ort, um nach einem ausgefallenen englischen Buchtitel zu suchen.
Booth Books     Am 1. April 1977 erklärte Booth Hay-on-Wye für unabhängig von Britannien. Dieser Aprilscherz war sicher ein guter Marketing-Schachzug, denn so konnte der Bekanntheitsgrad dieses kleinen Dorfes nochmals gesteigert werden. Seit dieser Zeit wird Richard Booth als »König von Hay-on-Wye« bezeichnet und standesgemäß wohnt er in dem alten Normannenschloss, welches über der Stadt thront und in dem sich selbstverständlich auch ein Antiquariat befindet.
     Als Fachmann für »Book Towns« gibt Booth auch ideelle Entwicklungshilfe für Orte in anderen Ländern, die den Erfolg von Hay-on-Wye nachvollziehen wollen, um vom unbedeutenden Kaff zur Touristenattraktion zu werden. Laut der aktuellen Ausgabe der »Book Town Gazette« will man in diesem Monat auch in Deutschland eine Stadt zur Bücherstadt ernennen, nämlich Waldstadt-Wünsdorf südlich von Berlin. Booth selbst war schon dort und hat die Lage als ideal befunden. Naja, wir sind gespannt und vielleicht berichtet ja demnächst jemand von dieser deutschen Bücherstadt. Wir wünschen auf jeden Fall viel Erfolg.

Lesen Sie jetzt den späten Nachtrag aus dem Jahre 2004: Zurück in Hay-on-Wye - sechs Jahre später.

Bücher unter freiem Himmel
Bücher unter freiem Himmel:

Selbst in den über 30 Antiquariaten scheint der Platz nicht mehr auszureichen.

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