Von Solingen nach Osttimor
Frank Fischer über das Sudelbuch von Jan Ulrich Hasecke, das nun auch als Buch erhältlich ist.

Jan Ulrich Hasecke hat ein Feindbild. In diesem Bild findet die Springerpresse genauso Platz wie deren Leser, die Unionsparteien (und Edmund Stoiber als deren Personifikation) genauso wie deren Wähler. Dann wäre da noch die Westerwelle-FDP, aber auch die (wirtschaftsliberale) Sozialdemokratie und all diejenigen, die immer noch ohne schlechtes Gewissen Auto fahren. Rund wird das Bild mit stetigen Seitenhieben gegen Bill Gates und Microsoft im Allgemeinen und das »Betriebssystemsurrogat« Windows im Besonderen.
     Neben seinem politischen Engagement ist Hasecke aber auch ein eifriger Diskutant in Sachen Netzliteratur, eigentlich aber kein Praktiker, sondern Techniker, der gerade am neu designten Netzliteratur-Portal justiert und zum Beispiel auch Herausgeber des ambitionierten GenerationenProjekts ist. Sein eigentliches Hausprojekt ist jedoch das »Sudelbuch«, eine (potenziell täglich wachsende) Sammlung von (sehr konventionellen) Texten, in der während der letzten Jahre u.a. zwei Fortsetzungsgeschichten entstanden sind. Eine davon, die als deutscher Schuldabtrageversuch startende »Reise nach Jerusalem« (Kritik im Literatur-Café) ist im letzten Jahr als »Book on Demand« erschienen und wurde vor allem wegen des Überangebotes an metaphorischen Wendungen kritisiert. Wer immer nach Beispielen für Metaphern sucht, wird hier auf jeder Seite fündig.
     Den nächsten Schritt, denn »zum Ausdruck drängt doch alles«, unternimmt Hasecke nun mit der Veröffentlichung der glossenartigen Meinungstexte, die zwischen 1998 und 2000 live veröffentlicht wurden und den Großteil des Internet-»Sudelbuchs« ausmachen. Liest man sich linear-chronologisch durch die Eintragungen, wozu die Buchform ja anregt, kann man die entscheidenden Ereignisse ab Juni 1998 noch einmal Revue passieren lassen: den Wahlkampf und Kohls entgegengefieberter Abwahl, die Fußball-WM in Frankreich, den »so bitter notwendigen rot-grünen Neuanfang« (22.09.1998), die Walser-Bubis-Debatte, den Lafontaine-Abgang, die Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, die ersten 100 Tage Rot-Grün, den Nato-Militärschlag gegen Serbien, die Sloterdijk-Debatte, den Parteispendenskandal. Ein Drei-Jahres-Rückblick mit (na ja) linksliberal-grünem Blickwinkel.
     Der Anlass für die »tagesfrischen Sudeleien« ist meistenteils die Presse, »Die Zeit«, »Die Woche« und, als reaktionärer Ausgleich, das »Parteiorgan der CDU« (01.12.1999) »Die Welt« sowie die »Bild«-Zeitung. Die Reaktionstexte des Medienkonsumenten Hasecke kommentieren ein Medienereignis und verarbeiten und kritisieren dessen Präsentation. An den Diskursen selbst nehmen sie nicht teil. Die verschiedenen Themen werden nur gestreift und so schnell wieder vergessen, wie sie aus den Medien verschwinden.
     Dabei ist Hasecke vor allem daran gelegen, sein Feindbild zu speisen. Mit den »Feinheiten der Ironie«, wie sie Fritz R. Glunk im Vorwort verspricht, gelingt es Hasecke auch dann und wann, seine Ziele einzukreisen und bloßzustellen. Die Kommentierung eines (getürkten?) Leserbriefs vom RCDS, ein zugegebenermaßen leichtes Opfer, ist ein Spaß (21.06.1998), und auch die Reaktions-E-Mail auf die von Schröders Wahlkampfteam veröffentlichte Garantiekarte ist köstlich (»Kann ich Gerhard Schröder umtauschen?«, 13.07.1998).
     Das sind einige schöne Einfälle, aber nur Gegenbeispiele, denn so richtig treffsicher ist Hasecke nicht. Seine bornierte Medienrezeption führt ihn zu ungenauen Schnellschüssen, besonders evident im Fall Sebnitz. Nun ist Hasecke nicht vorzuwerfen, dass er wie die meisten auf die »Bild«-Falschmeldung einsteigt. Als aber die Medien die Ente beim Namen nennen, will Hasecke ihnen nicht glauben und wittert lieber eine Verschwörung als einmal selbstkritisch einen faktischen Irrtum einzugestehen (30.11.2000).
     Dass etwas Wartezeit in der Schnelllebigkeit des Sofortmediums Internet ein Segen sein kann, räumt er nach dem 11. September auf der Mailingliste Netzliteratur ein:

»An mir habe ich beobachtet, dass meine Meinungen nach dem Anschlag so schnell wechselten, dass ich keine Zeit fand, sie niederzuschreiben. Aus heutiger Sicht muss ich wohl sagen: Gottseidank. ;-)«

Die fehlende Selbstironie ist ein weiteres Manko, das die Pointen oft selbst auf Parolen reduziert. Einige selbstironische Stellen gibt es dennoch, die aber wieder nur deshalb auffallen, weil sie so spärlich gesät sind:

»Mein sechsjähriger Sohn, den ich vielleicht etwas einseitig erzogen habe, ist immer ganz traurig, wenn die grüne Säule bei den Hochrechnungen so klein ausfällt. Und er fragt mich dann bei der Grafik zur Sitzverteilung: ›Und wenn alle Sitze grün wären?‹ Ich denke dann zwar: Gott möge das verhüten! Sage aber immer: Ja, das wäre schön!«

Obwohl das »Sudelbuch« kein Tagebuch ist, schimmert das Persönliche bisweilen doch durch. Neben der Schilderung von Problemen mit E-Plus (02.07.1998) und provinziellen Phänomenen wie der Solinger Entsorgungswirtschaft (28.9.1998) taucht dann aber wieder ein völlig vermessener Kommentar zu Osttimor auf (»Warum, so fragt man sich…«; 06.09.1999).
     Interessant wird es da, wo Hasecke einmal nicht die Tagespresse als Aufhänger nimmt, sondern lässig Spezialistenwissen preisgibt, etwa über »Das Bild des Deutschen im polnischen Film« (11.08.1998).
     Was aber bleibt vom gedruckten »Sudelbuch« neben dem auffrischenden Effekt eines Drei-Jahres-Rückblicks? Immerhin sind alle »Sudeleien« weiterhin im WWW einsehbar, und 241 von ihnen zu drucken, dazu gehört ein gerüttel Maß an Autoreitelkeit und die Hoffnung, den Leserkreis durch das beständige, besser lesbare Format zu erweitern. »Sie mag trügerisch sein«, konzediert Hasecke auf der Mailingliste Netzliteratur.
     Das Schreiben am »Sudelbuch« geht indes weiter. Seit Jahresanfang 2001 sind einige (nur mehr sporadische) neue Texte erschienen, die zum Teil auch parallel als Kolumne im Berliner Zimmer veröffentlicht werden.

Frank Fischer

Weiterführende Links zum Thema:
Im Cafe: - »Nach Aufräumarbeiten durchaus vorzüglich« - Unser Kritiker Malte Bremer über den Roman »Die Reise nach Jerusalem« von Jan Ulrich Hasecke.
Im Cafe: - Vom Internet ins Buchregal. Jan Ulrich Hasecke berichtet von seinem Buchprojekt »Die Reise nach Jerusalem«.

Cover: »Das Sudelbuch«

Nach »Die Reise nach Jerusalem« erschien im Herbst 2001 das zweite Buch von Jan Ulrich Hasecke bei BoD.

Der Rezensent, Frank Fischer, ist Germanist und arbeitete zuletzt am Wortschatz-Projekt der Universität Leipzig und an den Brawe Ressourcen mit.


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