Zum Ausdruck drängt doch alles
Das literarische Online-Projekt tage-bau.de des Berliner Zimmers ist nun auch als Buch erhältlich. Unser Kritiker Malte Bremer hat es sich angesehen.

Der Pixel-Streit - Wie literarisch muss ein Online-Text sein?

Wie alles begann:
Zum Ausdruck drängt doch alles
Malte Bremers Kritik zum »Pixel-Ich«

»Darf man das denn?«
Roberto Simanowski über die Bewertungskritiken von Online-Texten

Verriss = Fair Riss?
»Pixel-Ich« Mitautor Wilfried Bienek über Kritiker und Kritisierte

Die Redaktion des Literatur-Cafés sitzt ratlos vor einem Buch. Die Mitherausgeberin desselben, Sabrina Ortmann vom Berliner Zimmer, hat es uns geschickt: mit der Bitte um Besprechung. Dabei handelt es sich nicht um irgendein Buch! Es ist der bei BoD veröffentlichte Ausdruck eines »literarischen ONLINEtagebuches«, in dem verschiedene Autoren Texte zu bestimmten Themen einstellen. Tage-Bau nennt sich dieses vom Berliner Zimmer initiierte und vielbeachtete Projekt, das im letzen Jahr sogar bei einem Internet-Wettbewerb zum Thema Literatur den Innovationspreis des Kultursenders ARTE gewonnen hat.
     Durch die Linearität ist der Weg zum Papier relativ problemlos und verlustfrei möglich, und irgendwie scheinen sehr viele ähnliche Internet-Literaturprojekte diesen Weg zum Papier zu gehen. Es seien Norman Ohlers »Quotenmaschine«, Rainald Goetz' »Abfall für alle« (schon aus dem Netz entfernt), Hettches »NULL« oder - jetzt bei KiWi - »Am Pool« genannt. Nach Ausdruck drängt, am Ausdruck hängt doch alles, scheint die Devise zu sein. Frei nach Goethe, der auch als Ausdruck vorliegt. Um seine Texte wäre es schade, wenn es damals schon Computer und Internet gegeben hätte und der Faust dummerweise bei einem Festplattencrash im digitalen Orkus verschwunden wäre.
     Denn hier beginnt unsere Ratlosigkeit. Natürlich kannten wir schon einige der Texte, als sie nur im Web zu lesen waren. Die Zeitungsberichte, die über das Projekt erschienen und im Anhang des Buches wiedergegeben sind, die Laudatio der ARTE-Jury und auch der Vorwortschreiber Dr. Roberto Simanowski, Herausgeber der renommierten Website dichtung-digital, sie alle betonen die Verbindung von Internet und Buch, zitieren Ausschnitte aus dem Inhalt, zitieren sich gegenseitig und drücken sich - bei Simanowski am deutlichsten zu merken - um einen nicht unwichtigen Punkt: um die literarische Bewertung der Texte, um die Frage, was der unbedarfte Leser, der vielleicht nicht mit einem Tagebuch-Autor verwandt ist und der  wenig über den Ursprung der Texte weiß, von diesem Buch hat? Kurz: Lohnt es sich, das Buch zu lesen? Oder ist es nur der Versuch, durch den Druck die Texte vor der Flüchtigkeit des Internet zu retten?
     Wenn eine Besprechung des Buches für die Allgemeinheit erfolgen soll, dann kann sie nur unter diesem Aspekt geschehen. Also haben wir Malte Bremer gebeten, der ansonsten in seiner Rubrik Texte von Gästen des Literatur-Café bespricht, sich das Buch anzusehen. Hier sein Ergebnis:

»ich hätte gesagt, dass die idioten unnütze mails ins netz weben. so ähnlich stimmt das ja wohl.«

Das sind nicht meine Worte: das äußert eine der Vielschreiberinnen (S. 92) treffend unfreiwillig, da selbstverständlich völlig aus dem Zusammenhang gerissen, zu diesem Projekt, das ARTE in bester Tradition verschnarchtester Schüler-Erörterungsthemen (Technik: Fluch oder Segen?) aus allerdünnstem Boden stampfte: »Mein Pixel-Ich: ich bin drin, also bin ich! Oder?«.
     Dass Menschen überhaupt über diese Kombination aus Boris Becker und Fragezeichen nachzudenken sich anschicken, müsste doch schon erschreckend genug sein: Haben wir denn gar nichts gelernt aus der Selbstverwirklichung durch Heimwerkelei: Ich bohre, also bin ich? Ich bügle, also bin ich? Oder den anderen Selbstverwirklichungen: Ich telefoniere, also bin ich? Ich fahre Auto, also bin ich? Ich bin ich, also fitt ich? Was ist denn an diesem elitären Web so qualitativ neu und anders, als dass der ewig gleiche Schmonzes neu aufgekocht werden müsste? Ist die bunte Verpackung der Inhalt?

Noch nie hielt ich ein Druckerzeugnis in den Händen, in dem sich Vorwörtler und Laudatler darin einig waren, dass sie nicht die geringste Ahnung haben, wozu dieses Buch gut sein soll. Das ehrt sie über die Maßen: ein Server-Crash und das Preisgeld von ARTE waren Anlass, die Eitelkeit der Autoren, sich gedruckt selbst bewundern zu dürfen, ist der Grund (so Roberto Simanowski in seinem Vorwort); er stellt völlig zu Recht fest, dass dieses im Eigenverlag erschienene Buch es bei manchen Lesern schwer haben wird (manche ist ein gelungener Euphemismus); Sperrigkeit wird konstatiert (ich würde es Quälerei nennen), und wer an Quälerei interessiert ist, »wird diese 200 Seiten mit Gewinn lesen«. Wer’s mag...
     Der Titel des Buches gibt bereits Rätsel auf: Ein literarisches online-Tagebuch wird angekündigt, und behauptet wird in der Projektbeschreibung, dass »jede Woche ein neues Unterthema vereinbart wurde«. Tatsächlich wird zu jedem Thema zu jeder Zeit geschrieben, eine Verfasserin scheint prinzipiell nur dann zu schreiben, wenn alle anderen das Thema beendet haben, und dann gleich mehrfach nacheinander (Getreu dem Motto: im Netz, da sind wir frei, da können wir endlich machen, was wir noch nie wollten); das müssen merkwürdige Vereinbarungen gewesen sein, an die zudem die Leiterin des Projekts sich nicht hält!
     Was ist ein Tagebuch? Da schreibt eine Person ganz für sich, und sie schreibt, was ihr wichtig erscheint, auch dann, wenn es ein literarisches Tagebuch werden soll. Hier aber schreiben ein Haufen Personen zu bewegenden Themen wie eGenesis, Identität, Unter Strom, Soll und Haben, Unter Tage, Morbus Web, Geist (das dünnste Kapitel...) und Tribe (?). Das ist niemals ein Tagebuch!
     Es ist bestenfalls ein Forum, in dem jeder/jede zu bestimmten Themen über einen festgelegten Zeitraum nach Lust und Laune sich ergießen kann. Manche (7) ergossen sich nicht gerne: ich schätze, die haben entsetzt die Flucht ergriffen, denn sie haben maximal 2 Beiträge zu verzeichnen; 11 haben 4 bis 10 Beiträge beigesteuert (das sind bereits 18 Mitwirkende mit insgesamt 88 Beiträgen); dann geht es sprunghaft aufwärts: je einmal gab es 16 bzw. 17 Beiträge, zweimal 18, zweimal 21, einmal 27 (das ist die Dame, die das letzte Wort immer gleich mehrfach haben wollte). Das heißt: 7 Personen haben 138 Beiträge zu verzeichnen. Damit zeichnen 7 Personen für über 60% dieser Texte verantwortlich, Zählfehler meinerseits einberechnet.
     Warum ich das berechne? Gegenfrage: was hätte ich denn sonst mit diesem ausgedruckten Forum tun sollen? Ich halte mich da an Eckhard Henscheid: der hat einmal ein Telefonbuch kritisiert: das geht tatsächlich, wenn man sich zu helfen weiß!
     Also: es ist ein Forum, und kein Tagebuch. Ist es aber literarisch? Wenn man Literatur im allgemeinsten Begriff fasst, dann ist es sicher literarisch, vergleichbar etwa dem Text auf einem Schokoriegel oder Streichholzheftchen. Meint man damit aber poetische Texte, so behaupte ich schlichtweg: nein! Man bedauert, dass diese Personen sich die Mühe gemacht haben, ihre Texte zu rekonstruieren, statt sie einfach zu vergessen! Das ist so, als würde ich alle bei mir einlaufenden eMails ausdrucken und als »Projekt« vermarkten; sicher wären sie dann enorm authentisch, und man fände dort vergleichbar hübsche Pseudonymlein wie talinn, buh, randnotiz, Traumtod, ögyr. Und sicher sein kann man auch: viele haben ihre Spaß gehabt beim Schreiben. Doch der kommt nicht rüber.
     Was aber veranlasste die Projektleiter selbst zu diesem Schritt, können sie sich selbst doch schlecht der ungehemmten Eitelkeit bezichtigen? Sie bedauern, dass sich »Farben und Fonts, Bilder und Illustrationen« als die multimedialen Elemente (das meinen die ernst!!!, S. 9) nicht ausdrucken ließen: genau! Wenn man Langeweile bunt einfärbt, hat man zwar immer noch Langeweile, aber immerhin bunte! Farben, Fonts (1111 Profi-Schriften, die kein Schwein braucht, außer zum Übertünchen von Leere und Öde): da freue ich mich doch, dass es nur beim Text bleibt! Jetzt aber kommt das Entscheidende: die Projektleiter denken: »Wir denken aber, dass diese Anthologie so lebendig und abwechslungsreich ist, dass sie die bunte Online-Welt in den Köpfen der Leser zum Leben erwecken kann!«
     
Da haben wir es schwarz auf unbunt: Es ist kein literarisches online-Tagebuch (steht aber auf dem Titel), sondern eine Anthologie, also eine Sammlung von irgendetwas. Und wozu dient die? Den Lesern, die keine Internet-Erfahrung haben, »die bunte (Richtig: Fonts, Bildchen, Farben, ...) Online-Welt in den Köpfen (...) zum Leben erwecken!« Und das soll gehen? Die Internetlaien werden von und in diesen verbalen Ergüssen nicht ein Wort verstehen! Das Buch richtet sich ausnahmslos an Menschen, die das Internet kennen, und die brauchen es sich nicht vorstellen, sie haben es ja ohnehin online! Die brauchen vor allem auch dieses Buch nicht.
     Schlimmer geht’s nimmer! Internet nicht nur am Rechner, nein auch noch im Kopf wegen der schönen bunten Welt. Haut glücklicherweise nicht so hin, wie die Projektleiter sich das denken, das tröstet, allerdings muss ich wohl doch lesen.
     Ein kleiner Trost: es sind beileibe nicht 200 Seiten: nach zwei Vorwörtern, einer leeren Seite, einer Seite mit dem ersten Kapiteltitel 1. eGenesis und einer weiteren leeren Seite beginnt der Unfug erst auf Seite 13 und endet bereits bei Seite 185  (anschließend folgen 2 leere Seiten, 5 Seiten Eigenlob, 4 Seiten über einige Autorinnen und Autoren); von den 185 Seiten darf man noch 7 Seiten mit weiteren Kapitelüberschriften und nachfolgender Leerseite abziehen: es bleiben also ca. 158 Seiten übrig; und die sind beileibe nicht nur mit Texten gefüllt: da gibt es für Mathematiker höchst spannend zu lesende mehrzeilige Zahlenkolonnen von 1 und 0 (sehr unterhaltsam und erhellend, wie die Zahl der aufeinander folgenden Nullen und Einsen variiert), da kriegen wir endlich einmal den kompletten Kopf von eMails geboten, ein Selbstgespräch in einem Dummschwätzraum, eine Menge Insider-Computer-Jargon (Hach, wie kenne ich mich doll aus!), Beziehungskrisen, Seelenschmerz, Ach-die-Böse-Welt- und Ich-bin-ja-sooo-allein-Kitsch in Prosa und Lyrik, triefende Selbsterkenntnis der trivialsten Art:

Das Selbst – ein Tanz der Moleküle (S. 64 – Nicht einmal die werden in Ruhe gelassen, sondern müssen verkitscht werden!);
sprachverfallung, zauselung, wo findet sich mich (S. 66 – man muss sich nur in diesem Buch umschauen; muss man aber nicht);
Ich könnte mich damit anfreunden, eMails zu schreiben, in denen nichts drinsteht (S. 76 – warum folgten diesen Worten keine Taten???);
WorldWideWahnsinn (S. 92 – Das musste ja mal gesagt werden!);
Ich bin eine Schreibschlampe, werfe Wortfetzen, Worthüllen, Segmente, Fragmente, Bruch-Stücke einfach ungeordnet in die Welt (S. 130 – Der Satz selbst ist der beste Beweis dafür);
Ich bin Stückelung (S. 177 – Bedauerlicherweise gerade nicht!)
Ich füge die Wortteile immer wieder neu zusammen (S. 142 – Wer nichts zu sagen hat...).

Humor? Abgesehen von Der Papst im Chat (S. 49) vollständige Fehlanzeige! Distanz zum Kindergarten Internet? Iwo! Interessantes? Ach was! Literatur? Keine Spur! Und woher ziehen manche der Verfasserinnen aller Geschlechter ihre Chuzpe? Wer will, möge die stolz präsentierte Autorisation durch anerkannte (?) Schriftsteller nachlesen (S. 180), 25 von ihnen werden aufgelistet, die angeblich zitiert wurden. Doch es nützt nichts, sich mit fremden Federn zu schmücken, wenn die eigene Haut so nackt und konturlos ist, dass nichts haftet. Heraus kommen so unglaublich mutig-experimentelle Texte wie (man erschaure:) der.phiz., der.gabs., der.quest, der.luke, der.gott ... (S. 183). Und überhaupt: wo man überall Punkte hinsetzen kann: nämlich überall! Das ist nachgeradezu fantastisch; wem verdanken wir das? Genau, dem wwwPUNKTde. Und wenn das Deutsche nicht reicht (und es reicht nicht: schließlich wohnen wir ja im globalen Dorf mit Blick auf den 40cm entfernten Tellerrand), muss halt das BSE-Englisch herhalten oder sogar das Französische (war da nicht sogar etwas Bretonisches dabei? Will mich da lieber nicht festlegen!): das Französische gab wohl auch den Ausschlag, warum ARTE den Preis überhaupt verliehen hat, denn wie heißt es in der Jurybegründung so freundlich & erhellend: »...dass wir uns natürlich auch darüber gefreut haben, dass der tage-bau durch französische Textpassagen und literarische Zitate (...) dem deutsch-französischen Charakter von ARTE Rechnung getragen hat.« Bekanntlich kommt das Wichtigste immer zum Schluss, und bei ARTE endet die (abgedruckte) Begründung mit diesen Worten.
     Das Erfreulichste an diesem Wettbewerb ist: es gab vermutlich überhaupt keine ernsthaften Wettbewerber zu diesem albernen Aufsatzthema; und ARTE gibt nicht auch noch dieses Buch heraus, sondern die müssen das selber tun.

PS: Warum hat eigentlich am 21. September keiner was geschrieben? Oder ist mir da was entgangen?

PPS: »diese ganze anthropomorphe net.met.aff.orik muss weg« weiß ögyr bereits zu Beginn des Projektes am 21.8. (S. 51): Warum hat ihn keiner ernst genommen? Liegt das an der bunten online-Welt im Kopf, die jeden Sinn mit Bildchen beklebt?

PPPS: Um nochmals etwas ganz klar zu stellen: kein Wort von meiner Seite gegen das Projekt selbst (abgesehen vom dümmlichen Titel, wofür die Projektleiter nichts können)! Es war sicher auch der gewaltigen Mühen wert – trotz allem, wovon Sabrina Ortmann am Ende (S. 184) in ihrem Beinahe-Schlusswort zu berichten weiß! Es hatte sicher seinen Gewinn für die Beteiligten und Besucher. Es hatte im Internet seinen angemessenen und geschätzten Platz. Das Buch kann für die Beteiligten eine nette Erinnerung sein. Für unbeteiligte andere Menschen aber ist diese Anthologie völlig überflüssig!

Malte Bremer

Enno E. Peter; Sabrina Ortmann; Sabrina Ortmann; Enno E. Peter: tage-bau.de - Ein literarisches Online-Tagebuch: Mein Pixel-Ich. Taschenbuch. 2001. Books on Demand. ISBN/EAN: 9783831113484

 


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