Von der Glasvitrine zum Desktop-Computer

Eine Ausstellung im Internet versucht neue Kreise an die Netzliteratur heranzuführen

Eröffnungsredner Reinhard DöhlHomepage, Bildschirm, Tastatur, Maus und BedienungsanleitungMitten in Karlsruhe, direkt an der Fußgängerzone und hinter dem gewaltigen Klotzbau eines Kaufhauses, befindet sich das Prinz-Max-Palais. Dort, im zweiten Stock des Villenbaus, ist das »Museum für Literatur am Oberrhein« untergebracht. Was etwas bieder klingt, präsentiert sich auf den ersten Blick auch so: In Vitrinen und Schaukästen finden sich historische Buchausgaben wie z.B. der Erstdruck des Barockwerkes Simplicius Simplicissimus.
     Doch der Schein trügt, denn vom 16. April bis zum 2. Mai 2000 standen in einem der Ausstellungsräume acht PCs mit Internetzugang. An diesen Geräten war die Ausstellung »Liter@tur – Computer/Literatur/Internet« zu sehen. Wer die Ausstellung verpasst hat, der braucht sich jedoch nicht zu ärgern, denn sie ist weiterhin im Netz zu besichtigen. Der Aufruf der Web-Adresse http://www.netlit.de genügt.
     Eine Museumsausstellung im Internet? Was zunächst etwas paradox klingt, ist durchaus folgerichtig und konsequent umgesetzt, denn die Netzliteratur braucht nun mal das Internet. Animationen, Hyperlinks und andere Elemente sind nur per Bildschirm und Maus erlebbar, ein gedruckter Ausstellungskatalog würde dem Thema nicht gerecht werden.
Thorsten Liesegang     Thorsten Liesegang hat die Projektleitung der virtuellen Ausstellung. »Mit den Seiten wollen wir in das Thema einführen und die unterschiedlichen literarischen Erscheinungsformen im Netz aufzeigen«, so Liesegang. »Die Ausstellung richtet sich in erster Linie an ein Nicht-Fachpublikum, das wir an die literarischen Formen im Netz heranführen möchten«. So kann man unter www.netlit.de entweder in einer Kurztour ausgewählte und kommentierte Werke ansehen, aber auch länger in den unterschiedlichen Bereichen wie z.B. Digitale Literatur, Literatur im Netz und Literaturkritik verweilen.
     Fachleute dürften auf den Seiten kaum Neues entdecken, aber wer sich zum ersten mal mit der Thematik beschäftigen möchte, der findet einen guten und übersichtlichen Startpunkt, denn, so Liesegang, »viele der bestehenden Linklisten sind für den Neuling zu detailliert und unübersichtlich«.
     Im Netz soll die Ausstellung mindestens ein Jahr erhalten bleiben. Liesegang: »Wir müssen einfach sehen, wie sich das entwickelt und welche Pflege notwendig ist. Neben der Kontrolle, ob die verlinkten Websites noch existieren, müssen wir ja auch inhaltlich ständig neue Dinge ergänzen.«

Eine Rose ist eine Rose ist Liter@turParallel zur Ausstellung fand eine Vortragsreihe statt, die jedoch eindeutig theoretischer ausgerichtet und daher wohl eher für ein Fachpublikum interessant war. Allerdings war es klug gewählt, dass der Eröffnungsvortrag von Reinhard Döhl gehalten wurde. Das Publikum bestand nämlich nicht, wie man vielleicht vermutet hätte, aus jungen Germanistikstudenten, sondern aus Personen der älteren Generation, die wahrscheinlich seit Jahr und Tag jede Veranstaltung des Literaturmuseum besuchen. So warf dort vorne wenigstens kein Jungspund mit Begriffen aus der literarischen Internetwelt um sich. Döhl stiftete bereits in den 50er-Jahren Computer zum Dichten an. So baute Döhl mit seinem zwar langen aber informativen Vortrag eine Brücke zwischen der konkreten Poesie und seinen heutigen literarischen Werken im Netz, stellte gewissermaßen eine Art Verbindung zwischen Vitrinen und Desktop-Computer her (Text des Vortrags).
Heiko Idensen     Ganz anders der Vortrag von Heiko Idensen, zwei Tage später. Ein deutlich jüngeres Publikum versuchte die Faszination Idensens an kollaborativen Schreibprojekten und Hypertextstrukturen nachzuvollziehen. Der Literaturwissenschaftler Idensen mutierte dabei selbst zeitweise zum Hypertext. Auf seinem iBook-Computer klickte er Filmschnipsel einer Performance beim Deutschen Germanistentag (!) an, während er Teile aus seinem Manuskript vorlas, eigene Randbemerkungen verbal verlinkte, dann wieder im Papier blätterte und schließlich durch einige seiner Netzprojekte klickte. Das Publikum blieb etwas ratlos zurück, und in der Diskussion, waren öfter die bekannten Wörter einer Kindersendung zu hören: wieso, weshalb, warum.
     Idensen aber auch Döhl stehen symptomatisch für viele der Netzliteraten, die Künstler, Theoretiker und ihre eigenen Kritiker und Textdeuter sind. Solange es der Netzliteratur nicht gelingt, von diesem akademisch-theoretischen Zug wegzukommen, dürften auch Projekte wie die Ausstellung in Karlsruhe kaum dazu führen, dass ein Publikum außerhalb der Kongresse, Seminare und Mailingslisten erreicht wird.
     Da ist es geradezu exemplarisch, dass man nach Döhls Vortrag Stadthonoratioren vor dem Computer beobachten konnte, die - nachweislich ohne den Einfluss des Verfassers dieser Zeilen - über die Ausstellungsseiten auf das Literatur-Café gelangten und dort zielstrebig die erotische Literatur anwählten. Der Mensch bevorzugt Dinge, die er kennt.

Wolfgang Tischer
22.04.2000


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