Nach dem Amoklauf in Winnenden: Morden mit Goethe, Hesse und Poe? Darf Goethes Werther künftig erst ab einem Alter von 21 Jahren gelesen werden? Und sollte Hermann Hesse aufgrund seiner Sympathie mit einem Amokläufer nachträglich der Nobelpreis aberkannt werden? Unser Redakteur Johannes Näumann über den Einfluss der Medien und den politischen Aktionismus nach dem Amoklauf in Winnenden. Mit Anmerkungen von Wolfgang Tischer über Teeny-Tränen. Hinweis: Dieser Artikel wurde ursprünglich anlässlich des Erfurter Amoklaufs am 26.04.2002 geschrieben. Wie programmierte Roboter laufen nach einer solchen Tat die Reaktionen der Presse, der Politiker, der »Experten« und »der Öffentlichkeit« vorhersehbar ab. In diesem Artikel müssen daher nur Ort und Name des Täters geändert werden, sodass er zeitlos gültig ist. Sie können dies hier sogar selbst per Mausklick tun. Künftige Orte und Namen werden wir bei Bedarf ergänzen. Hier klicken für Textversion »Winnenden 11.03.2009« (Voreinstellung) - Textversion »Erfurt 26.04.2002« (Das Original) Kurz bevor der junge Werther seinen Leiden durch einen gezielten Pistolenschuss ein Ende setzte, hatte sich sein Lesegeschmack deutlich verändert. Statt wie bislang einem humanistischen Schulmeister wohlgefällige antike Verse von Homer zu rezitieren, stürzte er sich nun in die Werke des schottischen Dichters James Macpherson (1736 - 1796): »Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt« (Werther am 12. Oktober). Ob ihm das gut bekam oder nicht, lässt sich natürlich im Nachhinein nicht mehr beurteilen, aber interessant ist natürlich Frage, ob Werther sich aufgrund der Lektüre schottischer Herzschmerzlyrik umbrachte - oder ob er sie las, weil es ihm schlecht ging. Goethe traf im übrigen den Zeitgeist: Glaubt man seinen Kritikern, muss eine ganze Generation liebeskranker Jünglinge »Die Leiden des jungen Werther« auf dem Nachttisch und den Finger am Abzug von Papas Offizierspistole gehabt haben. Der Vorwurf des schlechten Einflusses der Medien - wie in diesem Fall das Print-Medium »Buch« - auf die kindliche bzw. jugendliche Psyche ist so alt wie die Medien selbst. Es ist noch gar nicht lange her, dass in der Bundesrepublik eine heftige Diskussion darüber geführt wurde, ob »Comic-Strips« aus Gründen des Jugendschutzes nicht generell verboten werden sollten. Erika Schmidt war eine Persona non grata. Später verlieh man ihr das Bundesverdienstkreuz und erhob das Comic offiziell zur Kunstform. Nach den Ereignissen in Winnenden - einem wohlgeplanten Amoklauf - ist unter Politikern und Medien blinder Aktionismus ausgebrochen. Der Täter kann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, durch seinen Selbstmord hat er der Öffentlichkeit das Ziel aller Entrüstung genommen. Man sucht sich den Schuldigen nun woanders. Der Täter hatte sich wohl kaum für James Macpherson oder Werther interessiert, auch ein übermäßiger Comic-Konsum war ihm nicht nachzuweisen, ein neues Bedrohungsszenario für die jugendliche Psyche wird aufgebaut: das Internet. Tim spielte schlimme Spiele. Tim hörte schlimme Musik, die er sich im Internet besorgte. Tim plante seine schlimme Tat am Computer und kündigte sie in einem Chat an. Alles über das Internet. Die Spiele sind schlimm, weil man Blut sieht und virtuelle Menschen erschießen kann; die Musik ist schlimm, weil sie laut und aggressiv ist. Die Schuldfrage ist also geklärt: Lasst uns die Spiele verbieten und Zugangsbeschränkungen gesetzlich verordnen. Politiker und Medien heizen, auch wenn sie es weit von sich weisen, die Stimmung ordentlich auf. »Warum die Macher solcher Seiten nicht aus eigenem Antrieb auf solche Texte verzichten, bleibt ein Rätsel mit nur einer einzigen Lösung: Auch sie haben keine ausgeprägte Moral und versuchen diesen Mangel mit aufgesetztem Humor zu überdecken« schrieb etwa der Spiegel. Der Bundeskanzler bildet »Arbeitskreise« (»Wenn ich nicht mehr weiter weiß....«), sein Münchner Gegenspieler betreibt fleißig Medienschelte, pikanterweise ohne jede Selbstkritik (welche Partei hatte eigentlich den »Niedergang des deutschen Fernsehens« maßgeblich vorangetrieben?). Spätestens nachdem die Programmdirektoren zum Rapport ins Kanzleramt zitiert worden waren, ist nur noch eine Sau übrig, die nun beliebig durchs Dorf getrieben wird: Lasst uns die Spiele verbieten und Zugangsbeschränkungen gesetzlich verordnen. Dann ist Ruhe im Karton und wir müssen uns keine weiteren Gedanken mehr machen. Spätestens hier wird es absurd. Taten wie das von Tim angerichtete Blutbad hat es leider immer gegeben und häufig waren die Täter von irgendwelchen Vorbildern beeinflusst. Doch wer wäre auf die Idee gekommen, nach einem Ritualmord, begangen im religiösen Wahn, etwa die Bibel zu verbieten - oder sie zumindest um ihre blutrünstigsten Stellen zu kürzen? Immerhin wird dort fleißig gemordet, gemetzelt und im Detail eine brutale Hinrichtungsmethode beschrieben. »Kreuziget ihn!«, schrie der aufgebrachte Pöbel. Warum ist die Verbreitung und Aufführung der Opern Richard Wagners nicht schon längst verboten, wo es doch erwiesen ist, dass sie den Massenmörder Adolf Hitler maßgeblich beflügelt hatten? Er sah in seiner Jugend in Linz eine Aufführung von »Rienzi - der letzte der Tribunen«, später leitete die Ouvertüre regelmäßig die Reichsparteitage ein, auf denen unter anderem auch die Rassengesetze verkündet wurden. Wie steht es um die Schriften von Marquis des Sade oder Edgar Allen Poe, die bis in die böseste Verästelung menschlicher Boshaftigkeit blicken? Am 4. September 1913, lange bevor Film, Fernsehen oder Computerspiele als Einfluss in Betracht gezogen werden konnten, ermordet der Lehrer Ernst Wagner in Degerloch bei Stuttgart mit einem Totschläger und einem Messer seine Frau und seine vier Kinder. Dann fährt er mit Fahrrad und Bahn in seinen früheren Wohnort und tötet dort mit gezielten Pistolenschüssen acht Menschen und verletzt weitere elf. Wie seinen Tagebuchaufzeichnungen zu entnehmen ist, plante Wagner die Tat jahrelang im Voraus. Sechs Jahre später verarbeitet der Nobelpreisträger Hermann Hesse die Tat in seiner Novelle »Klein und Wagner«. Hesse denkt sich zusammen mit seiner bürgerlichen Hauptfigur Klein in die Psyche des Lehrers Wagner hinein und sympathisiert mit ihm. Hesse schreibt: »Ja, und über diesen Wagner hatte er einst, in langvergangener besserer Zeit, sehr zornig und empört gescholten und ihm die grausamsten Strafen gewünscht. Und dennoch hatte er später selber, ohne mehr an Wagner zu denken, denselben Gedanken gehabt und hatte mehrmals in einer Art Vision sich selber gesehen, wie er seine Frau und seine Kinder ums Leben brachte. Und war denn das nicht eigentlich sehr verständlich? War es nicht richtig? Konnte man nicht sehr leicht dahin kommen, daß die Verantwortung für das Dasein von Kindern einem unerträglich wurde, ebenso unerträglich wie das eigene Wesen und Dasein, das man nur als Irrtum, nur als Schuld und Qual empfand?« Im Laufe der Novelle mutiert der brave Bürger Klein zum Mörder Wagner, der sich am Schluss, kurz nachdem er seine Geliebte töten will, selbst umbringt. Auch eines der bekanntesten Werke Hesses, Der Steppenwolf, ist voll von Gewaltfantasien. Der Steppenwolf ist dennoch z.B. in Baden-Württemberg im Lektüreverzeichnis des gymnasialen Lehrplans für die Klassenstufen 11, 12 und 13 enthalten. Jede Generation war »schlechten Einflüssen« ausgesetzt, vor denen sie die Erwachsenen zu beschützen suchten. Selbstmorde, Blutbäder, Attentate, öffentliche Hinrichtungen, Sadismus: alles hat es immer gegeben und wird wohl leider auch immer ein Thema sein. »Wir erwarten aber von Jugendlichen, dass sie die Grenze jederzeit ziehen können. Und Hunderte, Tausende, Millionen können es erstaunlicherweise auch - einer konnte es nicht« schrieb Michael Althen in der FAZ. Die Diskussion um Verbote läuft ins Leere und nützt nur den Wahlkämpfern in Berlin und München. »Ich bitte Dich - siehst Du, mit mir ist's aus, ich trag es nicht länger« schrieb Werther am 4. Dezember. Hier sollten wir ansetzen! Johannes Näumann/Wolfgang Tischer 08.05.2002/12.03.2009
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