Leipziger Buchmesse 2006: Spontaner Enthusiasmus, pure Erschöpfung
Was vor Jahren in lichten Hallen begonnen hat, ist längst ein Riesentrubel geworden: die Leipziger Buchmesse. Man könnte ersticken in den Besuchermassen (126.000, sagen die Veranstalter, ein Plus von 17%), wenn nicht – ein auf der ersten Blick sensationell einfaches Konzept – in gewissen Abständen die Glasfenster der großen Mittelhalle geöffnet würden und eisige Frischluft die verschwitzten Haare fönte.

Ein Messerückblick von Nessa Altura.

Die Schuhe von Frank Schätzing (Foto: Nessa Altura)Auf den diversen Sofa sitzen sie alle, die prominenten Autoren – und wenn man sie auf dem einen verpasst, so bekommt man sie später auf einem anderen, von mehr oder weniger gut vorbereiteten Hör- und Sehfunkmoderatoren serviert. Fabelhaft zum Beispiel die Bremerin Lore Kleinert, enttäuschend der ZEIT Krimirezensent Tobias Gohlis.

Am Donnerstagabend erkennt man die Messepreisträger an den gelben Blumensträußen, die sie an den Busen drücken: Man lauscht der sympathischen Ragni Maria Gschwend aus Freiburg, die klug und unaufgeregt von der Existenz eines Textes zwischen zwei nicht deckungsgleichen Sprachen erzählt. Ihr Vorname sei isländisch-heidnisch, erklärt sie, von den vorausschauenden Eltern aber mit dem Christlichen Maria neutralisiert. Ein weiterer Preisträger ist von Matt. »Mein Peterchen«, sagt eine Zuhörerin, die die Karriere ihres Lieblingsschriftstellers genau verfolgt hat und es sich auf dem Teppichboden bequem macht: der Schweizer Professor Peter von Matt stellt sein Buch von der Intrige vor, das man sofort gekauft hätte, wenn der Weg in die Messebuchhandlung nicht so weit gewesen wäre. Man nimmt sich vor, in Zukunft mehr zu intrigieren (eine höfische Kunst, sagt der Autor), lässt den Gedanken aber sofort fallen, als einem ein weiterer Preisträger begegnet, der geduldigst signiert, ein Lieber mit schüchternem George-Clooney-Augenaufschlag : Illja Trojanow aus Bulgarien. Der Weltensammler heißt das Werk, das man lesen möchte.

Natürlich gibt es auch andere Autoren, die man gerne gesehen hätte, wenn die Hinterköpfe der Vordermänner es zugelassen hätten: Bret Easton Ellis, der Ultraböse von American Psycho, dessen neues Werk, wie er verkündet, autobiografisch sein soll (oh Gott!), Ingo Schulze, der auf der Frankfurter Messe schon so vortrefflich gefeiert wurde, Ingrid Noll, der Deutschlehrer der Nation Bastian Sick, die kühle Ulla Hahn, der runde Feridoun Zaimoglu, der wiederauferstandene Franz Xaver Kroetz. Und Margriet de Moor.

Betrachten können hätte man jederzeit und mehrfach Roger Willemsen, der sich im Lichte der Scheinwerfer sichtlich sonnte, aber wie immer milde Langweiligkeit ausströmte. Also eilends vorbei und hin zur interessanten und erfrischend eloquenten Elisabeth Herrmann, die von den Mühen erzählte, ihr Manuskript vom Kindermädchen an den Mann zu bringen. Auch eine renommierte Rundfunkjournalistin muss also mit fünfzig (in Ziffern 50!) Verlagsabsagen fertig werden können. Angesichts so viel Hartnäckigkeit kann man nur den Hut ziehen. In angenehmem Englisch der junge David Piece mit todesfahler Haut und dicker Hornbrille: Nicht weniger als eine Krimitetralogie hat er geschrieben, die in und um  Yorkshire und den Yorkshire Ripper angesiedelt ist (The Red Riding Quartett, auf Deutsch 1974). Zuerst, so erzählt er, habe er als Kind gefürchtet, seine Mutter könne dessen Opfer werden, danach habe die Phase begonnen, in der er seinen Vater verdächtigt habe und am Ende habe er sich an dem Gedanken berauscht, den Ripper selbst dingfest zu machen: Eine hübsche autobiografische Notiz der psychischen Eskalation eines Heranwachsenden: Vielleicht sollte man sich doch hineinlesen in das ehrgeizige Opus.

Viele Mikros und irgendwo Frederic Beigbeder (Foto: Nessa Altura)Überraschend eine plötzliche Lücke, die sich bei Frank Schätzing auftut: Der deutsche Magier des Bestsellerns stellt sein neues Buch der Erdzeitalter vor. Ein Leselehrbuch, wie er es sich selbst früher gewünscht habe (Nachrichten aus einem unbekannten Universum) und - O Wunder - kaum jemand will zuhören. Zeit also, in einen Sessel zu plumpsen und sich auszuruhen, Frank Schätzings jurassische Reptilienschuhe ungehindert im Blick. Ein andrer zierlicher Werbemax mit Büchererfolg: Frederic Beigbeder gibt auf dem blauen Sofa den harmlos frechen Jüngling. Belanglos, aber erfischend. Es gibt aber auch unbekannte BestsellerInnen: Dazu gehört zweifelsohne die angenehm unprätentiöse Monika Feth, deren Jugendbücher vom Erdbeerpflücker am Donnerstag und das vom Mädchenmaler am Freitag die meistverkauften Messebuchhandlungsbücher in der Kategorie Kinder und Jugend waren.

Leipzig liest, Leipzig hört ist das abendliche Begleitprogramm: Das Abenteuer beginnt, wenn man auf der Suche nach den Lesungsorten durch Baustellen und Schneetreiben stolpert. Überall Leserschlangen, selbst Hörspiele sind ausverkauft. Es gelingt, die Newcomerin Petra A. Bauer mit ihrem Krimierstling Wer zuletzt lacht, lebt noch mehr zu sehen als zu hören, da eine Mikroanlage fehlt.

Mangamädels (Foto: Nessa Altura)Am Samstag zeigt der Rückstau auf der Autobahn, was die Stunde geschlagen hat: Wild aufgemachte Mädchen und junge Männer, die schwere Sensen auf der Schulter schleppen, strömen durch die Eingangshallen, weil sie in entsprechender Aufmachung kostenlosen Eintritt bekommen: die Comics- und Mangaprotagonisten sollen dargestellt werden. Verständlich, das sächselnde Mädchengruppen die Toiletten erobern, weil das Makeup im Gedränge zerbröselt. Das carnevaleske Element ist belebend, mancherlei unerhörter Blick in die kurvige Physiognomie möglich – aber die Veranstalter müssen aufpassen, dass die Messe nicht gänzlich zum wilden Familienpicknick entartet.

Das Stuttgarter Literaturhaus hat mutigerweise eine junge Rapgruppe (Rap bedeutet Rhythm and Poetry und ist damit durchaus richtig verortet) mit versierter männlicher Beatbox entsandt. Die Mädchengäng aus Sachsen, die sich zum Fantrupp mausert, feiert aber weniger die jungen Rapper als vielmehr sich selbst. Man amüsiert sich gut, wenn auch ein wenig grell.

Brockhaus (Foto: Silvija Hinzmann)Samstagabend liest die Verfasserin selbst, im Café Tatort, passend zur Messeskulptur, die aus riesigen Brockhauswänden vor dem Haupteingang besteht, eine Story von einem Brockhausvertreter, der erschlagen wird. Acht von 19 Krimiautoren der Anthologie Mörderisch Legger sind anwesend, das Publikum zahlreicher als die Sitzplätze – ein schöner Erfolg. Die Leipziger bringen's – in- und außerhalb der Messe viel spontaner Enthusiasmus, später pure Erschöpfung. Alles in allem aber: Leipzig ist eine Messe wert. Kompliment!    

Nessa Altura
20.03.2006
Fotos: Nessa Altura. Brockhaus-Foto: Silvija Hinzmann

Nessa Altura ist Krimi-Autorin. Sie hat zahlreiche Beiträge für Anthologien (Grafit, Scherz, Vertigo, et al) geschrieben und damit etliche Preise gewonnen (2002 Friedrich-Glauser-Preis; 2004 Prosapreis Fürstenwalde; 2004 Nominierung zum Agatha-Christie-Preis; 2005 Krimipreis der Stadt Singen (2. Platz)). Ihre Kriminalerzählung »Finale in Holzwickede« steht hier im Literatur-Café kostenlos als Hörbuch zum Download bereit. Ihre Website: www.nessaaltura.de


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