»Bei Ihnen gibt es einiges zu entlarven«, sagte Bettina. »Das macht neugierig.«
Stefan überlegte, das Stamperl zu holen, auch wenn es sich nicht mit dem Rotwein vertrug und bei Bettina einen falschen Eindruck hinterlassen würde. Scheinbar musste die Entlarvung nicht heute sein, denn sie lenkte das Thema auf den Girpitsch-See. Stefan rutschte auf der Bank in eine entspannte Sitzposition. »Der Berg, der See, die Alm – ich wüsste kein besseres Beispiel für den Irrtum, wir Menschen hätten alles unter Kontrolle, mit Ausnahme gelegentlicher Erdbeben und Ãœberschwemmungen natürlich. Merken Sie, wie gut das Wort natürlich passt? Eine Menge Respekt habe ich vom Girpitsch mit herunter genommen und Gefühle mitgebracht, die ich bisher in dieser Intensität nicht kannte, Angst und Verlorensein. Obwohl der Girpitsch kein Wort darüber verlauten ließ.«
»Und?«
»Ich bin mit der kleinen Engländerin gegen Mittag aufgestiegen, eigentlich recht spät, auch wenn man nur anderthalb Stunden bis zum See braucht. Zum Girpitsch führt kein Weg, streckenweise gibt es einen Trampelpfad, aber im Wesentlichen orientiert man sich an bestimmten Punkten am Berg. Ich war schon mehrfach oben und glaubte, die Wanderung sei wie der Spaziergang durch den Wald vor der Haustür. Wir sind am See entlang gegangen. Danach haben wir Blaubeeren für einen Pfannkuchen gesammelt. Schließlich lagen wir im Gras und haben uns die schroffen Bergspitzen angesehen. Ich erwähnte, ohne mir etwas Besonderes dabei zu denken, ich sei vom See aus noch nie weiter aufgestiegen, und sie meinte, wie schade und dass heute der Tag sei, der wie geschaffen sei, weiße Flecken in unserer persönlichen Landkarte auszufüllen. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und ich ließ mich von ihrer Begeisterung anstecken. Der Anblick über den Girpitschsee und das Tal entschädigten für den steilen Anstieg über die Wiesen. Je höher wir kamen, umso berauschender wurde das Panorama. Verstehen Sie, das war wie ein Kick, der Rausch einer erstmalig eingenommenen Droge.«
»Nein«, sagte Bettina, »aber ich bin neugierig.«
»Scheitellinien sind wie Sirenen, sie besitzen einen verführerischen Lockruf. Weil er unhörbar ist, hilft es auch nicht, wenn man sich die Ohren zuhält.«
»Erzählen Sie mir nichts von romantischer Geometrie. Was war mit dem Panorama?«
»Wir standen unten am See vor dem Hang und sahen dahinter das Bergmassiv mit der Spitze. Auf der Scheitellinie angekommen, waren wir zwar höher, aber es hatte sich nichts geändert. Vor uns türmte sich ein weiterer Hang auf, den wir von unten nicht erkennen konnten, und dahinter blieb der Berg. Das Spiel wiederholte sich wohl fünfmal, und auf jedem Hügel, den wir erklommen, entschädigte uns der Ausblick für die Anstrengung. Die Hänge zogen uns nach oben. Jedes Mal glaubte ich, das war’s, und dann kam der nächste Hügel und ich dachte, wenn wir schon so weit gekommen sind und jetzt umkehren würden, wäre alle Anstrengung umsonst gewesen, und dass wir den einen Buckel vor uns auch noch schaffen würden.«
»Also doch keine Sirenen, sondern gewöhnlicher Ehrgeiz.«
»Ich lasse nur Ehrgeiz gelten, alles andere ist ungewöhnlich. Die Hügel flüstern, sie möchten bezwungen werden und versprechen dir, den Horizont zu erweitern und dir ein Stück Erde zu zeigen, mehr, als du je gesehen hast. Als wir endlich nur noch den Felsen mit der Bergspitze vor uns hatten und das Holzkreuz an den Drahtseilen erkennen konnten, war es halb sechs.«
»Zu spät, vermute ich.«
»Ich hatte glatt die Zeit vergessen. Wir mussten den Abstieg bei Tageslicht schaffen. Von der Hütte aus waren wir mindestens drei Stunden aufgestiegen! Ich geriet in Panik und dachte, jetzt hat es dich erwischt, du bist verloren, abseits jeglicher Wanderwege, und nichts von der Erfahrung und dem Wissen, mit denen du den Alltag locker beherrschst, rettet dich. Meine Angst übertrug sich sofort auf die kleine Engländerin. Seltsam, ihr erschrecktes Gesicht gab mir Kraft. Ich hatte die Verantwortung, und der wollte ich gerecht werden.«