StartseiteAlmtraumFolge 94 vom 4. Juli 2007

Folge 94 vom 4. Juli 2007

»Bei Ihrer Ehrfurcht für die Natur dürfen Sie keine andere Einstellung haben. Wie war das mit der Einrichtung? Haben Sie die Kommoden, Tische und Bänke zusammensuchen müssen?«

»Bis auf den grünen Kachelofen in der Ecke ist die Einrichtung unverändert seit die Senner ausgezogen sind. Die Gardinen und die Kissenbezüge habe ich genäht.«

Bettina machte große Augen. »Sie haben genäht?«

»M-meine Mutter«, stotterte er. »Außerdem haben wir die achtundachtzig Nägel aus den Wänden gezogen.«

»Sie brauchen mir nichts vorzumachen. Mir ist es egal, wer genäht hat, die Gardinen und Kissen sehen hübsch und gekonnt aus. Achtzehn Nägel würden mir auch reichen.«

»Warum sollte ich übertreiben? Bei der Masse an Nägeln mussten wir einfach nachzählen, schon um unsere Leistung zu würdigen.

»Hat Ihnen der Nagler auch die schreckliche Tapete im Saustall hinterlassen?«

»Die Tapete ist ein Restposten. Im Laden sah sie gar nicht übel aus, hell und freundlich. Erst in der holzbraunen Umgebung entfalteten Farben und Muster ihre volle Wirkung. Von Hermann stammt, glaube ich, der Spruch, dass die Tapete die Verdauung beschleunigt, voraussgesetzt, man verrichtet sein Geschäft mit offenen Augen. Na ja, er hat es damals wohl etwas drastischer ausgedrückt.«

»Ich kann einen derben Witz vertragen, wenn er zündet.«

»So bemerkenswert war der Witz nicht. Die Pointe lief wohl auf schneller scheißen hinaus.«

»Wo ist denn die Verbindung zu Ihrem Paradies, wenn hier oben lediglich übliche Männerwelt geherrscht hat?«

»Der Eindruck täuscht. Bis auf die kleine Engländerin war ich in den letzten Jahren immer allein hier«, erklärte er aufs Geratewohl. Sie konnte es ohnehin nicht nachprüfen. Auch in seinen Erinnerungen suchte er nach Brücken, um die Bruchstücke, die er ohne nachzudenken erzählte, miteinander zu verbinden.

»Hat die kleine Engländerin auch einen Namen?«

»Natürlich.« Er könnte einen Namen erfinden, Sandra oder Jennifer oder Vivien, sie pflegten aber beim Erfinder schnell in Vergessenheit zu geraten und waren später Anlass für peinliche Nachfragen. »Für mich ist sie eben die kleine Engländerin.« Sabine, dachte er, aber der Einfall löste bei ihm keine Erkenntnis aus. »Sie hat eine ausgesprochene Neigung zum Anglikanischen. Das fängt mit den Sprachkenntnissen an und gipfelt in Bed & Breakfast als der höchsten Stufe, auf der man in die englische Lebensart eintreten kann, so wie ein Wurm, der sich durch den Apfel frisst und erst im Kerngehäuse glücklich ist.«

»War sie Ihre Freundin?«

»Ja«, antwortete er und überlegte, warum er sich so sicher war, nie mit ihr im Bett gewesen zu sein.

»Danach wollten Sie Ihr Paradies mit niemandem mehr teilen?«

»Es ergab sich so.«

»Leben Sie jetzt allein?« fragte Bettina, hörbar vorsichtig.

Vor ein paar Tagen hatte er sich gefragt, ob er vielleicht Familienvater mit zwei Kindern sei. Inzwischen schätzte er diese Version als unwahrscheinlich ein. Keine der Begebenheiten, die er erzählte, bot einen Anhaltspunkt für eine Partnerschaft, weder auf Frau oder Kinder, noch auf eine Freundin. Ja, er lebe allein, sagte er ihr. Fehlt nur noch, dass sie wissen wollte, ob er Bindungsängste habe. Der Gedanke, dass er eine Psychoanalytikerin dringender als eine Lektorin brauchte, beunruhigte ihn für einen Moment. Weit davon entfernt, in der Hütte eine Couch aufzustellen, war sie mit ihrer ständigen Fragerei nicht.

»Ich betrachte das Alleinsein als eine Phase der Besinnung und Orientierung«, erklärte er. Die Aussage klang glaubhaft und hörte sich überlegen an, alles unter Kontrolle. »Vielleicht wird aus mir ein Schmetterling.« Oder eine Motte. Ob sie mit ihrer Schlagfertigkeit darauf kommen würde?