StartseiteAlmtraumFolge 92 vom 2. Juli 2007

Folge 92 vom 2. Juli 2007

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Auf dem Tisch am Ende der Küche erhellten zwei Kerzen ein unruhig flackerndes Oval, in dessen Mitte ein Buch lag. Henry, der Protagonist des Romans, durchlebte soeben eine Krise und wurde von Selbstzweifeln geplagt, mit denen sich Stefan auf Anhieb identifizieren konnte. Nicht das Scheitern ist das Unglück, sondern es nicht versucht zu haben, war die Erkenntnis, mit der sich Henry am eigenen Schopfe aus dem Dilemma ziehen wollte.

Stefan schlug das Buch zu.

Er fand Bettina schlafend im Wohnraum. Sie lag unbequem mit dem Oberkörper auf der Bank an der Wand. Mit den Fingerspitzen trommelte er eine Melodie auf die Tischplatte, und als sie nicht reagierte, klopfte er auf den Tisch.

»Du meine Güte«, sagte sie und richtete sich auf. Sie schüttelte die Haare und benutzte die Finger als Kamm. »Ich wollte mich nur einen Augenblick ausruhen und habe mich zur Seite gelegt. Dabei bin ich eingeschlafen.«

»Kein Wunder, Sie haben die halbe Nacht draußen verbracht, sind zwei Stunden gewandert, haben Bier getrunken. Und jetzt die Abendessenszeit verschlafen.«

Bettina stand auf und dehnte ihre Hüften.

Während des Essens lenkte Stefan das Gespräch auf die Hütte.

»Ich habe die Hütte seit acht Jahren vom Lugleitner gepachtet«, erzählte er. »Einer seiner Vorfahren hieß Walln, deshalb wird er auch der Walln-Bauer genannt, die Alm heißt Walln-Alm und die Hütte …« Er steckte sich einen seiner Appetithappen in den Mund.

»Das ist nicht schwer zu erraten«, sagte Bettina. »Wie kommt man an eine Hütte? Ich schätze, sie wird nicht als Kleinanzeige im Express angeboten.«

»Mit Dusel. Wir waren zu viert, alles Freunde aus dem Studium. Ãœber Christi Himmelfahrt wollten wir ein zünftiges langes Wochenende in den Bergen verleben. Wandern, saufen, Karten spielen. Mein Freund Hermann kannte unten im Priachtal die Jausenhütte – sie gehört übrigens auch dem Lugleitner. Dort bieten sie Nachtlager an. Hermann hatte uns vier Matratzen für vier Nächte reserviert. Stellen Sie sich vor, Sie liegen ruhig und warten auf den Schlaf, hören das gleichmäßige Atmen Ihrer Schlafgenossen. Neben mir lag Hermann und ich fragte ihn, warum er sich denn verdammt noch mal in die Hose gepinkelt hätte, anstatt auf die Toilette zu gehen. Lenk nicht ab, antwortete Hermann, wer den Furz zuerst gerochen …«

»Wie originell!«

»So ist das eben mit Obstler und Murauer Märzen. Die anderen beiden unterstützten mich und meinten, sie könnten wohl eine mit Obstler verfeinerte Bierfahne von Uringeruch unterscheiden. Am nächsten Morgen schaute Hermann unter den Laken nach. Es war ekelhaft. Dunkel geränderte Urinflecken lebten in Gemeinschaft mit Blutflecken – eine Frau sollte doch wissen, wann sie mit ihren Tagen zu rechnen hat.«

Bettina legte die belegte Brothälfte zurück auf das Holzbrettchen.

»Der Lugleitner sah an diesem Morgen auf der Alm nach dem Vieh und hörte von unserer Beschwerde. Zusammen mit den Matratzen warf er gleich den Pächter raus. So kamen wir mit dem Lugleitner ins Gespräch und ins Saufen, obwohl der Lugleitner keiner von denen ist, die sich mit einem Obstler bestechen lassen. Der weiß, was er will und was er hat. Kurz und gut, er glaubte uns die Leidenschaft fürs Gebirge und fragte, ob wir Interesse an seiner oberen Hütte hätten, der Pachtvertrag liefe dieses Jahr aus. Wir stiegen noch am gleichen Tag herauf, haben uns die Hütte angesehen und ich machte den Pachtvertrag per Handschlag fest.«

»Und Sie sind gleich umgezogen?«

»Ja. Allerdings war es hier auch nicht viel besser. Wir verbrannten die Matratzen und legten uns mit unseren Schlafsäcken aufs Heu, das wir auf dem Dachboden fanden.« Stefan wie in die Richtung des Schlafraums. »Die Luke in der Decke vor der Schlafzimmertür führt unter das Dach. Im nächsten Frühsommer zimmerten Hermann und ich die Bettstellen und die Schubladen darunter. Das Holz hat uns der Lugleitner geschenkt.«

Bettina schaute ihn nachdenklich an. »Sie sind ein Glückspilz.«

Stefan wiegte den Kopf. »Ich möchte jetzt nicht abwägen, was mir ein veröffentlichtes Manuskript im Vergleich zur Hütte wert ist.«

»Sie haben die Alm Ihr Paradies genannt. Wenn ich einen Ihrer Romane zur Veröffentlichung bringe, würden Sie mir dann den Pachtvertrag überschreiben?«

Stefan lachte. »Wahrscheinlich nicht. Sie sind eine kluge Frau.«

»Ich habe mich lediglich von Ihrer Begeisterung anstecken lassen.«

»Das ist gut«, sagte er zufrieden.