Anzeige
0
StartseiteAlmtraumFolge 85 vom 25. Juni 2007

Folge 85 vom 25. Juni 2007

Bettina stand im Türrahmen. Sie hatte die Jeans gegen eine Leinenhose gewechselt. Hoffentlich steht sie nicht schon länger dort, dachte Stefan.

»Wie sind Sie in das Loch hinein gekommen?« fragte er. Na wie wohl, gab er sich die Antwort, bestimmt ist sie nicht aus Spaß hineingehüpft.

»Ich bin weggerutscht und habe das Gleichgewicht verloren. Ehe ich mich versah, lag ich drei Meter tiefer.«

»Sie waren nicht in Lebensgefahr.«

»Dass Sie mich ein weiteres Mal gerettet haben, ist schon verdammt zwiespältig. Andererseits, wenn Sie mich mit dem Taxi einfach nur nach Hause gefahren hätten … Vorhin, auf dem Weg zur Hütte habe ich gedacht, jetzt holt er gleich den Strick raus, aus ist es mit deiner Bewegungsfreiheit. Und was machen Sie? Kochen Kaffee.«

»Möchten Sie eine Tasse? Bringen Sie die Milch mit, sie steht auf der Kommode.«

Bettina kam mit der Milch und einer emaillierten Blechtasse. »Seit ich denken kann«, sagte sie und betrachtete die großen weißen Punkte auf der blauen Tasse, »gehe ich in kritischen Situationen ins Bett. So wie eben. Ich stelle mich nicht.«

»Jeder Mensch hat seine eigenen Mechanismen in der Bewältigung von Konflikten.«

»Darum geht es nicht. Ich bin Ihren Vorwürfen ausgewichen.«

»Ich sehe keinen Grund, Ihnen Vorhaltungen zu machen.«

»Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Flucht unvernünftig war. Weiter unten am Wasserfall hätte der nächtliche Ausflug tödlich enden können. Seien Sie doch nicht so entsetzlich selbstgefällig. Ihre Rücksicht rechtfertigt nicht die Freiheitsberaubung, derer Sie sich schuldig gemacht haben.«

»Sie sind das Entführungsopfer, ich bin der Entführer. Sie haben das Recht auf Fluchtversuche.« Schrecklich, wie er heuchelte. Auf solche Eigenschaften konnte er im Zusammentragen seines Persönlichkeitsbildes gerne verzichten.

»In Ordnung, wenn Sie es so sehen.« Bettinas Augen verengten sich und ein entschlossener Zug trat um ihren Mund. »Wagen Sie es nur nicht, sich mir auf weniger als fünfzig Zentimeter zu nähern.« Sie stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und verließ den Wohnraum.

Es war kein Teller in Reichweite, so wie in der Wohnung. Den hätte er nicht gegen die Wand, sondern auf seinem Kopf zertrümmern müssen. Eine zweite Chance, über einen Friedensschluss zu reden, würde sie ihm nicht so schnell wieder geben.

Eine andere Hälfte, die vorsichtigere in ihm, fragte: Hätte sie dich mit einem blauen Auge davonkommen lassen? Er fand darauf keine schlüssige Antwort.

Bettinas Zubettgehen-Verhalten war ihm nicht fremd. Hatte er nicht das erste Streitgespräch mit ihr auf die gleiche Weise beendet? Zum Holzhacken war er ebenso ausgewichen und schließlich war er davongelaufen, als sie mit ihrer pointierten Frage ein vernichtendes Urteil über seine Phantomgeschichte gefällt hatte. An diesem Punkt der Überlegung stülpte sich eine tiefer greifende Vermutung über die vorhandene Erkenntnis: Ich bin auf der Flucht, doch ich weiß nicht, wovor. Es gibt etwas, dem ich mich nicht stelle.

Stefan lugte zur Enzianflasche im Wandschrank, während er den Kampf mit sich ausfocht.