17
Mit der linken Hand suchte Stefan den Raum über dem Fußboden ab, wo die Taschenlampe stehen musste. Dann erinnerte er sich, dass er die Taschenlampe bereits gestern Abend vermisst hatte. Er stieg aus dem Bett und tastete sich Schritt für Schritt durch das Dunkel bis zur Kerze, die er vor dem Zubettgehen in der Küche neben dem Gaskocher abgestellt hatte.
Manchmal war er nachts zu faul, in den Stall auf die Toilette zu gehen und er stellte sich vor die Tür. Jetzt, wo Schnee lag, machte das keinen guten Eindruck. Unter einfachen Bedingungen neigen Männer dazu, sich ordinär zu verhalten, insbesondere wenn sie sich unbeobachtet fühlen; hier waren es durchaus praktische Überlegungen, denn je öfter der Toiletteneimer voll war, desto häufiger musste er entleert werden. An diesem Punkte geriet er mit der kleinen Engländerin in Streit und sogar Hermann, der auf den Bergtouren als gemeinschaftserprobter Mitwanderer galt, scheute den Eimerwechsel.
Leise kehrte Stefan in den Schlafraum zurück. Mit der Handfläche schirmte er das Kerzenlicht ab, um Bettina nicht zu wecken.
Das rote Innenfutter ihres Schlafsacks lag weit offen. Nur halb wach begriff er nicht sofort, was vorgefallen war: Bettina hatte sich davon gemacht! Deshalb konnte er die Taschenlampe nicht finden! Die Wunde hinter dem Ohr begann schmerzhaft zu pochen.
In der Dunkelheit war es unmöglich, Bettina zu suchen. Ebenso unmöglich war, ruhig im Bett zu bleiben. Wenn dich die ganze Welt verläßt … doch eines halt dir immer fest … Bettina war der einzige Mensch, den er hatte, Berta Böttcher, Ralzinger, Bichler, Moosbauer, Traudl, das waren Begegnungen. Man hat einen Menschen, wenn man sich mit ihm verbunden fühlt, und mit Bettina fühlte er sich verbunden, über Absage und Entführung hinaus. Die Verantwortung für sie lastete doppelt schwer.
Angst kam, sie entstand wie immer oben im Magen und breitete sich schnell bis hoch in den Hals aus. Diesmal würgte sie ihn nicht, sondern trieb ihn in eine lähmende Unruhe. Er zog sich an und machte Feuer im Ofen, verbrachte die zwei Stunden bis zur Morgendämmerung gehend, stehend und sitzend, er räumte auf und ordnete, was bereits geordnet war. Die Weiße Wand mischte sich massiv in seine Gedanken als die Befreiung von aller Schuld.
Als die Nacht in graue Schatten überging und einige Meter Sichtweite zuließ, holte er aus dem Stall die Baustellenlaterne und füllte sie mit Petroleum auf.
Ein leichter Wind trug die spärlich fallenden Schneeflocken sanft zur Erde. Vor der Hütte waren Bettinas Fußabdrücke noch zu erkennen, sie führten in Richtung auf den Lift. Hin und wieder rissen die Spuren ab und wurden nur dort wieder deutlich sichtbar, wo die Grasfläche eben war, am Lift vorbei verloren sie sich. Da sie nur den Weg durch die Latschen und am Wasserfall vorbei nach unten kannte, musste sie zwangsläufig dorthin gegangen sein. Selbst er hatte Mühe, im Halbdunkel die Einmündung des Pfades auf die Alm am Rand der Latschen zu finden.
Gott im Himmel, flehte er und versuchte nicht daran zu denken, dass die Lektorin sich verirrt haben könnte.
Er suchte entlang der Latschen, bis er auf die Priach stieß. Der Bach war an dieser Stelle flach und breit, durchsetzt mit Steinen wie Pickel auf einer glatten Wasserhaut. Da sie von unten kommend den Bach nicht überquert hatten, würde Bettina spätestens hier kehrt gemacht haben, und dass sie aufwärts gegangen war, konnte er ebenfalls ausschließen.
»Bettina!« rief er laut. Kurz entschlossen drang er in die Latschen ein und bahnte sich einen Weg abwärts. Schnee stieb von den Zweigen auf Jacke und Gesicht. Noch einmal rief er: »Bettina!«, während er mit den Zweigen kämpfte und Wassertropfen aus dem Gesicht wischte.
»Hier bin ich!«, hörte er und glaubte, die Antwort zu träumen; er blieb stehen, lauschte und rief er erneut, lauter.
»Hier!« kam die Antwort prompt zurück. Von links.
So gut es ging ruderte Stefan durch die Latschen. Ein zurückschnellender Ast zerschlug das Glas der Petroleumlaterne und löschte die Flamme. Er fluchte und warf die Laterne auf den Boden.
»Wo sind Sie?« rief er.
Keine zehn Meter vor ihm leuchtete eine Taschenlampe auf. Bettina stand in einem Bodentrichter nahe der Priach. Steile Wände hielten sie von drei Seiten gefangen. Im Rücken versperrte ein Felsbrocken mit glatten Kanten den Ausweg über den Bach.
Mit ausgestrecktem Arm ging er auf die Knie. Noch bevor Bettina seine Hand greifen konnte, zog er den Arm zurück. »Wenn ich abrutsche, sitzen wir beide in der Falle«, erklärte er und stand auf. »Ich hole eine Leiter, das ist sicherer. Im Stall liegt eine, die benutzt der Lugleitner, wenn er lose Dachschindeln festnagelt.« Er wusste selbst nicht, warum Dachreparaturen im Augenblick erwähnenswert waren.
»Beeilen Sie sich!«