StartseiteAlmtraumFolge 82 vom 22. Juni 2007

Folge 82 vom 22. Juni 2007

Stefan holte eine Flasche Rotwein aus dem Stall. Während er die Flasche öffnete und die Gläser füllte, saß Bettina wie unbeteiligt am Tisch. Auch nach dem Eingießen kam kein Gespräch in Gang. Stefan begann, diesen Zustand zu mögen. Sie würde ihm doch nur mit der Entführung in den Ohren hängen, ein Thema, zu dem er heute Abend nichts mehr hören wollte. Er könnte sich mit ihr über das vergebliche Schreiben unterhalten, aber womöglich würde die Lektorin ihm über ihr vergebliches Lesen erzählen, über die Abstumpfung, Manuskript für Manuskript an die Seite zu legen und die Hoffnung nicht aufzugeben, das nächste würde die Erfüllung bringen.

Mitten in seine Betrachtungen zeigte Bettina auf das weiße Tuch an der Wand. Wenn dich die ganze Welt verläßt und eines dir nur bliebe – diese Aussage spannte sich als Schirm von blaugestickten und von Blumen umrankten Buchstaben über die beiden folgenden Zeilen – doch eines halt dir immer fest, das ist die Gottesliebe. Eine zu umständliche Aussage, wie sie fand.

»Bodenständig«, meinte Stefan, »nicht umständlich. Ihr Eindruck ist verständlich, weil bei Ihnen die kritische Einstellung zu allem Geschriebenen berufsbedingt ist.«

Bettina nahm einen Schluck Rotwein. Mit dem Absetzen des Glases fragte sie: »Welches Ihrer Manuskripte habe ich eigentlich abgelehnt?«

Er nannte den Titel.

»Bei der Fülle von Papier, das über meinen Schreibtisch geht … Ich erinnere mich nicht. Um welches Thema ging es denn?«

»Eine sozialkritische Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt.«

»Nicht unbedingt ideal für einen Ersteinstieg bei Weigold. Ein solches Thema braucht einen bekannten Verfasser. Es muss die Leute interessieren, was denn der … Wie war Ihr Name?«

Stefan wischte die Frage mit einer Handbewegung weg.

»Was denn der Dingsda zu dem Thema zu sagen hat,« vollendete Bettina, »dann wird das Buch gekauft. Unbekannter Autor, anspruchsvolles Thema, kleine Auflage, keine Käufer, kein Umsatz, kein Gewinn, vergiss es, pflegt mein Chef zu sagen. – An was hatten Sie denn gedacht, was ich für Sie schreiben soll?«

Stefan verblüffte die ruhig und sachlich gestellte Frage. »Ich habe einen Entwurf, Das Literaturphantom«, rettete er sich. Über den Roman hatte er sich bis jetzt keine wirklichen Gedanken gemacht. »Warten Sie.«

»Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen«, sagte Bettina, als er ihr die zusammengefalteten Seiten reichte. Die kühle Beherrschtheit, die er bisher an ihr nicht kannte, traf ihn schmerzhaft, glaubte er doch seit dem Abendessen, die Lektorin habe eingelenkt und die Dinge würden von nun an einen friedlichen Verlauf nehmen. Statt dessen würde er sich weiter vorsehen müssen, um von ihr nicht eingewickelt zu werden wie beim Essen die Käsestückchen in die Salami.

Bettina verzog keine Miene, während sie las, und das störte ihn zunehmend.

»Was soll das sein?« fragte sie und legte die Blätter auf den Tisch. »Plagiat oder Persiflage? Oder beides – ein persifliertes Plagiat? Die Niederschrift einer Wahnvorstellung über Lektorinnen?«

Stefan nahm die Seiten wortlos vom Tisch und stopfte sie zusammen mit zwei Holzscheiten in den Herd. Aus dem Schlafraum holte er eine Wolldecke, nahm seine Skijacke vom Garderobenhaken und ging vor die Tür und um die Ecke der Hütte. Ein schwacher Lichtschimmer lag auf der Schneedecke vor dem Wohnraumfenster. Außerhalb des Fensterbereichs verschluckte die pechschwarze Nacht den Schnee. Mit der Hand fegte er ein Brett frei, das über zwei kurze Baumstücke genagelt worden war, hockte sich drauf und lehnte sich an die Hüttenwand.

Seine theatralische Reaktion war nicht zu vergleichen mit der bei Berta Böttcher, auf deren Urteil er wahrlich keinen Wert legte. Bei der Lektorin lagen die Dinge anders, sie hatte ihr Urteil in ein überlegenes Wortspiel gekleidet, sie hatte es ihm gezeigt, ihn in Frage gestellt.

In der Hütte war es lange Zeit ruhig, dann hörte er Bettina hantieren. Was sie wohl macht, fragte er sich und knüpfte an das Spiel der Fantasien an, die Interpretation der Geräusche, die ihn über nächtliche Schlaflosigkeit hinweg geholfen hatte. Die ausgetretenen Bohlen des Wohnraumes knarrten in unregelmäßiger Folge; er glaubte, das Schlagen der Ofentür und das Gießen von Wasser zu hören. Einmal öffnete Bettina die Tür nach außen. Er lauschte angestrengt, doch deckte der unermüdliche Fluss des Wassers in den Trog die anderen Geräusche zu. Später flackerte Kerzenlicht durch das Schlafraumfenster und erlosch schließlich.

Als es ihm zu kalt wurde und er hineinging, brannte kein Licht mehr. Er langte nach den Streichhölzern auf dem Ecktisch und zündete eine Kerze an. Bettina lag in dem Bett, das er ihr zugewiesen hatte, den Schlafsack über die Schultern gezogen. Sie atmete ruhig und gleichmäßig.

»Machen Sie bitte die Kerze aus«, sagte sie plötzlich, ohne die Augen zu öffnen.